Schlüssel
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Chemie Passgenau gegen Krebs

Arzneimittel kann man sich vereinfacht wie molekulare Schlüssel für biologische Schlösser vorstellen. Dabei spielt ihre gezielte Wirkung im Körper eine wichtige Rolle. Was wäre, wenn ein medizinischer Wirkstoff so verpackt wird, dass nur krankes Gewebe ihn freisetzt?

von Dr. Jan Gabriel Felber

Das Schlüssel-Schloss-Prinzip beschreibt die Wirkung von Arznei­mitteln erstaunlich gut. Viele Medikamente kann man sich als molekulare Schlüssel vorstellen, die biologische Schlösser aufschließen. Nach der Öffnung des Schlosses wird ein Prozess zur Bekämpfung einer Krankheit in Gang gesetzt. Je pass­genauer der Schlüssel dabei im Schloss sitzt, desto gezielter wirkt er.

Die Herausforderung für Chemiker:innen liegt darin – um im Bild zu bleiben –, die Zacken am Schlüssel­bart auf molekularer Ebene so fein zu schleifen, dass der Schlüssel am Ende in nur genau ein Schloss passt. Dies führt dann im besten Fall zur heilenden Wirkung mit möglichst geringen Nebenwirkungen.

Eine weitere Herausforderung bei der Entwicklung von Arzneien liegt in der optimalen Verpackung des Schlüssels für den Transport an das richtige Ziel – das von Krankheit betroffene Gewebe. Es gibt nämlich Hürden bei der Aufnahme und Verteilung von Wirkstoffen im menschlichen Körper. So können manche Medikamente nicht über Schleimhäute im Magen aufgenommen werden, sodass sie ohne Wirkung dort zersetzt oder direkt ausgeschieden werden.

Dies wird verhindert, wenn man den Schlüssel, also das Arzneimittel, in einen maß­geschneiderten molekularen Mantel verpackt. Wenn sich dieser dann nach der Auf­nahme im Gewebe zersetzt, führt das zur Freisetzung des Wirkstoffes.

Der klassische Arbeitsplatz eines Chemikers: Jan Gabriel Felber im Labor
©Annette Mueck
Der klassische Arbeitsplatz eines Chemikers: Jan Gabriel Felber im Labor

Bei der Wirksamkeit einer Arznei kommt es also neben dem passenden Schlüssel stets auf die richtige Verpackung an. Solche molekularen Mäntel werden im Körper möglichst ziel­genau aufgelöst. Damit die Wirkung räumlich begrenzt bleibt, braucht es also spezielle enzymatische Prozesse, die nur in krankem Gewebe vorkommen.

Und genau hier liegt derzeit das wesentliche Problem: Bisherige Medikamente treffen meist nicht ausschließlich krankes Gewebe. Dies ist beispiels­weise bei dem breit ein­gesetzten Chemo­therapeutikum Irinotecan der Fall: Man hofft bei der Frei­setzung des giftigen Wirk­stoffes gegen Krebs auf den erhöhten Stoff­wechsel im Krebs­­tumor. Trotzdem wird er auch vielfach im übrigen Körper­gewebe abgegeben und richtet dort Schäden an.

Im Rahmen unserer Arbeit entwickelten wir neuartige chemische Strukturen, um damit hoch­wirksame Krebs­­medikamente – also besonders fein geschliffene Schlüssel – so zu verpacken, dass nur ganz bestimmte Enzyme das Medikament freilegen können. Diese Enzyme sind im Krebsvgewebe über­durch­schnittlich aktiv. Viel­ver­­sprechend ist dieser Ansatz, da er unabhängig vom gewünschten Medikament modular einsetzbar sein könnte. Das heißt, damit könnte eine Vielzahl von Krankheiten bekämpft werden.

Eine molekulare Verpackung für Arznei­mittel darf nicht zu anfällig, aber auch nicht zu beständig sein. Wir wollten wissen, wie eine molekulare Verpackung aussehen muss, damit sie vom gesunden Gewebe nicht gleich aufgelöst wird. Dann mussten wir sicher­stellen, dass nur spezielle Enzyme in krankem Gewebe eine solche Verpackung auflösen und so den Wirkstoff freigeben. Und zu guter Letzt mussten wir natürlich sicher­stellen, dass der gewünschte Effekt im Kampf gegen Krebs wirklich besser funktioniert als bei Standard­wirkstoffen wie beispiels­weise Irinotecan.

Bei unseren Experimenten zur Herstellung eines molekularen Mantels bedienten wir uns eines Tricks. Wir umhüllten damit einen abschaltbaren Farbstoff – sozusagen eine molekulare LED-Leuchte. Zusammen mit Karoline Scholzen vom Karolinska-Institut für Biochemie in Stock­holm setzten wir diese Verpackung dann verschiedenen Enzymen aus. Und tatsächlich: Nur ein bestimmtes Enzym, das häufig in Krebs­geweben vorkommt, konnte mit unseren neuen Strukturen reagieren und so die Verpackung auflösen.

Nun musste sich zeigen, ob unsere neue molekulare Verpackung auch für den Transport und die gezielte Freisetzung von Arznei­mitteln einsetzbar ist. Zur Bekämpfung von Krebs­tumoren werden normaler­weise Zellgifte verwendet, die leider häufig zu Neben­wirkungen führen. Es gibt nur wenige dieser starken Mittel, deren Wirkung durch gezieltes Verpacken inaktiviert wird. Erfreulicher­weise haben die Wirkstoffe der sogenannten Duocarmycine genau diese Eigenschaften.

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Im Labor stellten wir eine Reihe neuer Wirkstoff­kandidaten dieser Art her – verpackten also äußerst fein geschliffene Schlüssel mit unserem neuartigen Mantel. Uns gelang es, die Stärke des Wirkstoffes gezielt zu steuern – je nachdem, wie anfällig oder beständig der jeweils verwendete Mantel war. Zuletzt, in genetisch veränderten Zellen, die das spezielle Enzym zum Öffnen der Verpackung nicht enthielten, wurde der Wirkstoff folge­richtig auch nicht frei­gesetzt.

Damit konnten wir den nächsten Schritt gehen und die konkrete Anwendung für die Krebs­therapie erforschen. In Zusammen­arbeit mit der Firma Re­action Biology in Freiburg und den National Institutes of Health (NIH) der USA testeten wir knapp 200 Zelllinien unter­schiedlicher Krebs­arten. Bei einer dieser Krebs­arten beobachteten wir im Versuch mit Mäusen eine hemmende Wirkung. Unser Präparat wirkte dabei ähnlich gut gegen das Tumor­wachstum wie Irinotecan – bei geringerer Dosis. Das ist ein viel­versprechendes Ergebnis, auch wenn noch viel Zeit vergehen wird, bis unser Medikament bei Menschen eingesetzt werden kann. Zusammen mit Oliver Thorn-Seshold und Lukas Zeisel von der Ludwig-Maximilians-Universität München haben wir die zugrunde­liegenden Strukturen der Verpackung zum Patent angemeldet.

Das Ziel möglichst spezifischer Krebs­medikamente wird von vielen Forschenden und Unternehmen verfolgt. Das niederländische Start-up Byondis etwa stattet solche Medikamente zusätzlich mit speziellen Antikörpern aus. Solche Antikörper lassen sich jedoch noch nicht für alle Krebs­arten einsetzen. Die chemischen Strukturen, die wir als Verpackung für Arznei­mittel entwickelt haben, könnten hierbei eine entscheidende Rolle spielen. Sie lassen sich leicht mit anderen Strategien gegen Krebs kombinieren und könnten so einen nächsten Sprung für die Krebs­therapie bringen: ein fein geschliffener, pass­genauer Schlüssel in der richtigen Verpackung und zusätzlich ausgestattet mit speziellen Krebs­anti­körpern – das Beste aktueller Entwicklungen vereint. Solche Kombinations­ansätze werden auch generell in der modernen Medizin immer wichtiger, um Krankheiten in Zukunft noch effektiver, gezielter und schonender behandeln zu können.

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Was hat die moderne Krebsmedizin mit einem Früh­stücks­brötchen gemeinsam? In beiden Fällen spielt das Schlüssel-Schloss-Prinzip (SSP) eine wichtige Rolle: die spezifische Bindung eines Moleküls (Schlüssel) an einen passenden Rezeptor auf Zellen oder Mikro­organismen (Schloss). Ein biologischer Prozess beginnt. Drei Beispiele, wie das SSP das Leben beeinflusst.

1. Als Helfer in der Backstube:
Bei der Gärung von Teig reagiert die Hefe mit Zucker. Es bilden sich Blasen, und der Teig geht auf. Bäckerei­betriebe geben gerne das Enzym „Amylase“ hinzu. Das Enzym dockt an die Stärke im Mehl an und zerteilt sie in gut verdauliche Zucker­moleküle. Durch die Vorarbeit der Amylase kann die Hefe schneller und effektiver arbeiten. Deshalb geht der Teig besser auf und verleiht dem Brötchen die perfekte Konsistenz.

2. Als Abwehraktivist:
Im Körper halten Zellen des Immunsystems ständig nach Krankheits­erregern Ausschau. Dafür besitzen sie eine große Auswahl an Antikörpern – Proteinen, die an spezifische Moleküle (Antigene) auf der Oberfläche von gefährlichen Keimen binden. Der Zusammen­schluss löst eine Immun­reaktion aus, und der Eindringling kann zerstört werden.

3. Als Befruchtungsbote:
Wenn ein Spermium bis zur Eizelle gelangt, ist das noch kein Garant für die Befruchtung. Denn die Eizelle trifft eine überlegte Wahl, wen sie aufnimmt. Neben chemischen Signalen und zellulären Wechsel­wirkungen spielt dabei auch das SSP eine Rolle. Die Oberfläche eines Spermiums trägt Moleküle, die an die Rezeptoren auf der Eizelle binden – wenn sie denn passen. Nur Spermien mit dem richtigen Gegen­stück können in die Eizelle eindringen. — J. Schrupp

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