Informatik Verrauschte Gleichungen & supercoole Flüssigkeiten

Die Dean-Kawasaki-Gleichung ist eine stochastische partielle Differentialgleichung, mit der sich bestimmte physikalische Prozesse beschreiben lassen. Was die Existenz von Lösungen betrifft, galt aber noch bis vor Kurzem, frei nach Shakespeare: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage.“

von Dr. Tobias Lehmann

Wasser gefriert bei 0 Grad Celsius. Stimmt in der Regel. Tatsächlich lassen sich aber viele Flüssigkeiten – so auch Wasser – unter bestimmten Bedingungen auf Temperaturen unterhalb ihres Gefrier­punktes herunter­kühlen, ohne dass sie ihren Aggregat­zustand ändern. In der Physik wird dieses Phänomen als Unter­kühlung bezeichnet – oder: Super­cooling.

Wer im Netz nach „supercooled water“ sucht, wird zahlreiche Videos finden mit Experimenten für zu Hause. So führt etwa ein Klaps mit der Hand gegen eine Flasche mit unterkühltem Wasser aus dem heimischen Gefrierschrank zum plötzlichen Kristallisieren des Wassers.

Dieser Effekt lässt sich durch das Fehlen von Kristallisations­keimen erklären: mikroskopisch kleinen Partikeln, an denen sich die ersten Kristalle bilden – und von denen das weitere Erstarren seinen Lauf nimmt. Mini­male mechanische Reize wie ein Schlag gegen die Flasche mit unterkühltem Wasser bewirken punktuell eine Verdichtung auf molekularer Ebene, die den abrupten Wechsel von flüssig zu fest initiiert.

Prozesse wie dieser werden in der Thermo­dynamik und der statistischen Mechanik, beides Teil­gebiete der Physik, untersucht. Für den Erkenntnis­gewinn von Physiker:innen sind dabei nicht nur Experimente relevant, sondern auch mathematische Modelle zur Beschreibung der physikalischen Phänomene. Ein Beispiel für so ein Modell ist die sogenannte Dean-Kawasaki-Gleichung, benannt nach den beiden Physikern Kyozi Kawasaki (1930–2021) und David S. Dean (geboren 1976). Seit den 1990er-Jahren hat sich diese Gleichung zu einem vielfach verwendeten mathematischen Modell für unterkühlte Flüssigkeiten und ähnliche physikalische Systeme entwickelt. Wir haben diese Gleichung näher unter die Lupe genommen.

Mathematik findet vor allem im Kopf statt. Neben dem regelmäßigen Gedankenaustausch mit Kolleg:innen braucht Tobias Lehmann daher nur Stift, Papier und manchmal den Laptop
©Annette Mueck
Mathematik findet vor allem im Kopf statt. Neben dem regelmäßigen Gedankenaustausch mit Kolleg:innen braucht Tobias Lehmann daher nur Stift, Papier und manchmal den Laptop

Dem Typ nach handelt es sich dabei um eine stochastische partielle Differential­gleichung. Gleichungen dieser Art sind für Mathematiker:innen eine große Heraus­forderung, viele Verfahren und Methoden für ihre Untersuchung wurden erst in den vergangenen 30 Jahren entwickelt. So erhielt der österreichische Mathematiker und Physiker Martin Hairer 2014 für seine Arbeiten die Fields-Medaille – die höchste Auszeichnung, die man in der Mathematik erhalten kann. Er hatte eine Theorie der Regularitäts­strukturen entwickelt und damit einen neuen und weg­weisenden Ansatz zur Erforschung ebensolcher Gleichungen.

Zum besseren Verständnis wollen wir versuchen, uns diesem Gleichungs­typ in drei Schritten zu nähern. Bei gewöhnlichen Differential­gleichungen ist eine Funktion gesucht, von der auch Ableitungen in der Gleichung auftauchen. Die Schwingung eines Pendels oder die Anzahl der zerfallenen Atomkerne in einer radioaktiven Substanz lassen sich durch solche Gleichungen beschreiben. Auch in der Epidemiologie finden sie Anwendung, etwa für die Vorhersage von Infektions­zahlen während der COVID-19-Pandemie.

Bei einer partiellen Differential­gleichung, unserem nächsten Schritt, hängt die gesuchte Funktion von mehreren Variablen ab, in Anwendungen häufig von Zeit und Ort. Dement­sprechend kommen in der Gleichung auch Ableitungen nach den verschiedenen Variablen vor – man spricht von partiellen Ableitungen. Ein klassisches Beispiel dieses Gleichungs­typus ist die Wärme­leitungs­gleichung, mit der sich die Ausbreitung von Wärme in einem Medium modellieren lässt.

Bei einer stochastischen partiellen Differential­gleichung tauchen zu guter Letzt zusätzlich noch stochastische, also vom Zufall abhängige Terme auf. Man kann sich das in etwa vorstellen wie ein Hinter­grund­rauschen, das die ursprüngliche Dynamik stört. Besonders häufig an­zu­treffen ist dabei das sogenannte Weiße Rauschen. Das ist ein stochastischer Prozess, den wir uns vereinfacht vorstellen können wie einen sich zeitlich und räumlich verändernden Aktien­kurs – also wie ein chaotisches Zick-Zack-Gebilde.

Und genau hier liegt die Krux. Aufgrund dieses Rauschens sind die Lösungen von stochastischen partiellen Differential­gleichungen selbst zufällig und meist hochgradig irregulär. Insbesondere sind sie oftmals nicht differenzierbar. Aber Halt! In der Gleichung kommen ja Ableitungen der Lösung vor. Wie soll man also etwas ableiten, das nicht differenzierbar ist? Um diesen Widerspruch aufzulösen, bedienen sich Mathematiker:innen verallgemeinerter Ableitungs- und Lösungs­begriffe. Mit diesen abstrakten Konzepten können sie auch stochastische partielle Differential­gleichungen untersuchen.

Zu Beginn so einer mathematischen Untersuchung steht häufig die Frage, ob überhaupt Lösungen existieren. Das ist keine banale Frage, denn anders als bei den Gleichungen, die wir aus der Schule kennen, lassen sich die Lösungen von Differential­gleichungen nicht einfach durch Umstellen ermitteln. Statt­dessen braucht es verschiedene theoretische Argumente, um zum Ziel zu kommen. Dabei kann ein einziger Existenzbeweis leicht mehr als ein Dutzend Seiten beanspruchen.

Die Frage nach der Existenz von Lösungen für die Dean-Kawasaki-Gleichung war dann auch, was uns in diesem Projekt umtrieb. Denn obwohl die Gleichung schon seit einigen Jahr­zehnten in physikalischen Anwendungen auftaucht, fehlte bis dahin eine rigorose mathematische Analyse. Auch wegen ihrer Popularität waren wir anfangs davon ausgegangen, dass die Frage positiv zu beantworten ist, und haben entsprechend versucht, die Existenz einer Lösung mathematisch zu beweisen.

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Mehr als ein Jahr lang probierten wir dafür verschiedene Ansätze aus, die frustrierender­weise letztlich alle in Sack­gassen führten. Erst nach anderthalb Jahren wurde unsere Beharrlichkeit belohnt – und zwar mit einem Ergebnis, mit dem niemand gerechnet hat: Die Dean-Kawasaki-Gleichung besitzt in der Regel keine Lösungen. Nur in ganz bestimmten Sonder­fällen treten Lösungen auf – diese sind aber trivial, also wissenschaftlich uninteressant.

Nicht nur wir waren verblüfft, sondern auch einige Kolleg:innen aus der theoretischen Physik. Natürlich, schließlich stellt unsere Erkenntnis die Verwendung der Dean-Kawasaki-Gleichung als mathematisches Modell grundsätzlich infrage.

Einen Schlussstrich setzt der Beweis dennoch nicht. Im Gegenteil, unsere Erkenntnis liefert eine Motivation, sich erneut und grundlegend mit der Gleichung aus­einander­zu­setzen und sie zu modifizieren. Das ginge beispiels­weise durch das Hinzufügen von nicht­linearen Termen oder die Verwendung von alternativen Rausch­prozessen. Neben dem Weißen gibt es nämlich auch farbiges, beispiels­weise Rotes Rauschen.

Im Idealfall erlauben solche Modifikationen dann nicht nur die Existenz von Lösungen, sondern führen zu einer besseren Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit und vielleicht irgendwann auch zu einem tieferen Verständnis für unterkühlte Flüssigkeiten.

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