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Biologie Empfangsstörung

Fast jede Körperzelle verfügt über einen winzigen, haarartigen Zellfortsatz – ­ primäres Zilium genannt. Seine Funktion ähnelt der einer Antenne. Ist sie gestört oder fällt sie aus, werden wir krank

von Dr. Jan Niklas Hansen

Das primäre Zilium ist so winzig, dass wir es mit einem gewöhnlichen Mikroskop kaum sehen können – es ist nur etwa 500 Nanometer dick, also hundert­mal dünner als ein menschliches Kopfhaar. Dennoch ist das Zilium enorm wichtig. Seit den 1990er-Jahren haben Forscher:innen mehr und mehr Erbkrank­heiten entdeckt, die sich auf defekte Zilien zurück­führen lassen – sogenannte Ziliopathien. In den kranken Zellen ist die Bildung bestimmter Proteine, die für Bau und Funktion des Ziliums benötigt werden, gestört. Die Folgen sind vielvfältig und umfassen zum Beispiel Fett­leibigkeit, geistige Behinderungen, Blindheit oder körperliche Fehlbildungen. „Das zeigt, wie wichtig die Zilien für beinahe alles in unserem Körper sind“, sagt die Zellbiologin Dagmar Wachten von der Universität Bonn. „Wir verstehen aber bisher kaum, wie das Zilium funktioniert, und ebenso wenig, was genau in den kranken Zilien nicht funktioniert.“ In unserer Arbeit ging es darum, beides besser zu verstehen – sodass am Ende gezielte Therapie­methoden entwickelt werden können.

Man geht heutzutage davon aus, dass die Zelle das Zilium wie eine „Antenne“ verwendet. Das Zilium nimmt Reize aus der Umgebung der Zelle wahr, wandelt sie in intraziliäre Signale um und leitet diese in den Zellkörper – der darauf reagiert. Solch ein Reiz kann etwa entstehen, wenn sich das Zilium durch eine vorbei­fließende Körper­flüssig­keit verbiegt – gleich einem Grashalm im Wind. Aber auch Hormone, die sich an Rezeptoren auf der Zilien­ober­fläche binden, können Reize sein.

Bei der Arbeit mit optogenetischen Enzymen muss Jan Niklas Hansen die Zellen stets ins richtige Licht rücken
©Annette Mueck
Bei der Arbeit mit optogenetischen Enzymen muss Jan Niklas Hansen die Zellen stets ins richtige Licht rücken

Bei der Reizwahrnehmung ist die geringe Größe des Ziliums von Vorteil. Da einzelne Reize angesichts des verhältnis­mäßig großen Volumens der Zelle im Zell­körper schnell „verpuffen“, sind viele Reize nötig, um ein ausreichend starkes Signal an der Zell­ober­fläche zu erzeugen und so eine zelluläre Reaktion auszulösen. An der Zilien­ober­fläche dagegen können schon schwache Reize empfangen werden, denn das Volumen dieser Antennen ist fünftausendmal kleiner als das der Zelle. So kann die Zelle dank ihres Ziliums schon kleinste Veränderungen in der Umgebung wahrnehmen.

Viele Forschungs­arbeiten deuteten bisher darauf hin, dass ein kleines Molekül namens cyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP) eine wesentliche Rolle bei der Signal­weiter­leitung im Zilium spielt. cAMP ist aber auch Teil vieler anderer Signal­ketten im Zellkörper. Deshalb war lange unklar, ob und wie cAMP zur Signal­weiter­leitung des Ziliums beiträgt. Bisher gab es bei der Unterscheidung der cAMP-Signale im Zilium von denen des Zell­körpers im Wesentlichen zwei Hürden.

Die erste betraf das Größen­verhältnis zwischen Zilium und Zellkörper. Zwar gab es Methoden zur Messung jenes Moleküls, allerdings gingen die schwachen Signale im Zilium in den starken des Zellkörpers unter. Man kann sich das vorstellen, als würde man heraus­finden wollen, ob inmitten eines Lager­feuers ein Streichholz brennt. Die zweite Hürde bestand darin, die Reiz­weiter­leitung durch cAMP im Zilium getrennt von der des Zellkörpers zu beeinflussen. Um beide Hürden zu über­winden, entwickelten wir im Rahmen unseres Projektes neue Techniken. Zum einen entwickelten wir „CiliaQ“, ein Computer­programm, mit dem wir in Mikro­skopie­bildern im über­tragenen Sinne gezielt jenes Streich­holz im Lager­feuer finden und vermessen können. Zum anderen vermochten wir mithilfe eines neuen Verfahrens, cAMP- Signale gezielt nur im Zilium auszulösen und die Folge­reaktion der Zelle zu beobachten. Dazu verwendeten wir ein licht­empfindliches Enzym.

Enzyme finden sich in jeder unserer Körperzellen reichlich und sind oft Proteine, die chemische Reaktionen beschleunigen. Zum Beispiel gibt es Enzyme, die cAMP erzeugen und so ein Signal auslösen. Das Besondere an licht­empfindlichen Enzymen: Ihre Aktivität lässt sich mit Licht steuern. Zudem gibt es sie nur in ganz wenigen Lebewesen – nicht im Menschen. Erst seit den 2000er-Jahren lassen sich solche maß­geschneiderten Enzyme in andere Organismen überführen oder gar künstlich designen. Auf diese Weise können Forscher:innen biologische Prozesse mit Licht manipulieren. Damit war die sogenannte Optogenetik geboren. So gibt es ein licht­gesteuertes Enzym namens bPAC, welches cAMP produziert. Dieses schleusten wir in die primären Zilien von kultivierten Nieren­zellen ein. Mithilfe einer speziellen Taschenlampe ließ sich bPAC im Zilium aktivieren, sodass das Enzym cAMP-Signale im Zilium auslöste. Die Stärke des Signals und dessen Dauer konnten wir steuern, indem wir die Zellen unterschiedlich hell und lange beleuchteten.

So entdeckten wir einen cAMP-Signalweg im Zilium, der Licht auf den Mechanismus einer der häufigsten Ziliopathien wirft: die polyzystische Nieren­erkrankung. In Deutschland leiden etwa 40.000 Menschen darunter. Die erste Diagnose erhalten Patient:innen oft erst im Alter von 30 bis 40 Jahren. Bisher gab es nur Vermutungen zum Mechanismus der Erkrankung: Möglicherweise spüren die Nieren­zellen den Fluss des Urins nicht mehr – der Grashalm merkt nicht mehr, dass er im Wind weht. In der Folge reagieren die Zellen falsch: Sie wachsen unkontrolliert. Aus den feinen Röhrchen in der Niere entstehen große flüssig­keits­gefüllte Höhlen. Diese Zysten behindern die Niere in ihrer Aufgabe, überschüssige oder schädliche Stoffe auszuscheiden. Nur eine Nieren­transplantation löst das Problem langfristig, denn effektive Medikamente fehlen bislang.

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Schon länger deutet vieles darauf hin, dass cAMP eine maßgebliche Rolle bei der polyzystischen Nieren­erkrankung spielt. Tolvaptan zum Beispiel – derzeit das einzige Medikament, mit dem sich die Krankheit abschwächen lässt – reduziert vermutlich den cAMP-Spiegel in den Zellen. Die große Frage war jedoch: Sind es cAMP-Signale im Zilium oder im Zellkörper, die zur Zysten­bildung führen?

Zur Klärung dieser Frage besiedelten wir ein künstliches Gewebe mit Nieren­zellen, in denen wir bPAC selektiv ins Zilium eingebaut hatten. Im Dunkeln bildeten die Nierenzellen nieren­geweben­kleine Röhrchen – so wie sie es auch in einer gesunden Niere tun. Überraschend: Wenn wir mit einer speziellen Taschen­lampe im Zilium über mehrere Tage starke cAMP-Signale auslösten, wuchsen die Zellen zu Zysten. In gleich aufgebauten Experimenten mit Zellen, bei denen wir bPAC im Zellkörper und nicht im Zilium einbrachten, bildeten sich hingegen keine Zysten. Somit zeigten wir erstmalig, dass Nieren­zellen Zysten bilden, wenn cAMP-Signale im Zilium, aber nicht im Zellkörper übersteigert werden. Die erhöhte Stimulation täuscht die Zellen. In der Folge wachsen und positionieren sie sich falsch.

In weiteren Experimenten konnten wir die Mechanismen, die von der zu starken Stimulation des Ziliums bis zur Zysten­bildung führen, genauer aufklären. Zudem konnten wir zeigen, dass sich cAMP gezielt im Zilium abbauen und die Zysten­bildung so unter­drücken lässt – und zwar, indem man die betroffenen Zellen mit bestimmten Substanzen behandelt. Eine Pharma­firma arbeitet nun daran, diese Substanzen zu Medikamenten weiter­zu­entwickeln. Leider ist der Weg bis zu einem fertigen Medikament lang, da sich die Substanzen noch in vielen weiteren Tests bewähren müssen. Wenn alles gut läuft, könnte in 10 bis 15 Jahren ein Medikament den Patient:innen helfen, ihre Antennen wieder auf Empfang zu bringen.

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Rätselhafte Wimper

Vermutlich verfügt jede Säugetierzelle über ein primäres Zilium. Seine Funktion wurde lange unterschätzt

Die motilen, sich aktiv bewegenden Zilien sind viel bekannter als die immotilen. Erstere etwa finden sich auf Oberflächen der Lungenepithel­zellen. Die elektronen­mikroskopischen Bilder erinnern ein wenig an wogende Getreide­felder. Milliarden dieser nur wenige tausendstel Millimeter langen „Wimpern“ (lat.: cilium) sorgen dafür, dass eingeatmete Fremdstoffe abtransportiert werden.

Im Gegensatz zu den motilen Zilien – zu denen übrigens auch der geißelförmige Schwanz des Spermiums gehört – sind die immotilen Zilien unscheinbar und können sich nicht aktiv bewegen. Sehr viel weiß man noch nicht über sie – lange Zeit interessierte sich schlichtweg niemand für sie. Erst seit rund 25 Jahren zeigt sich, welche Rolle sie bei teils schweren Erkrankungen spielen.

Ihre Funktion wird gerne mit der einer Antenne verglichen. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Rezeption von Strömungen, dem Geruch oder der Licht­wahr­nehmung. Auch chemische und thermische Signale können sie verarbeiten. Die Funktionen der primären Zilien sind vielfältig – und das macht deutlich, wie folgenschwer Störungen dieser winzigen Antennen sein können. Patient:innen mit Ziliopathien – genetischen Erkrankungen, die auf defekten Zilien beruhen – haben Symptome verschiedenster Art. Da Zilien auch in der Entwicklung eine wichtige Rolle spielen, machen sich viele Ziliopathien schon im Mutterleib bemerkbar.

Die meisten davon gehören zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen, die, so gilt es in der Europäischen Union, weniger als fünf von 10.000 Menschen treffen. Da es aber alles in allem wohl mehrere Hundert mehr oder minder schwere Ziliopathien gibt, relativiert dies deren Seltenheit. Mittlerweile vermuten Forscher:innen, dass gestörte Zilien auch an Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Adipositas oder Schwerhörigkeit beteiligt sind. — J. Schüring

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