Unter dem Mikroskop sind links die Zellen eines gesunden Menschen zu sehen und rechts die von Macie. Sie leidet unter dem GLUT1-Defizit-Syndrom. Die Zuckertransporter (GLUT1) fluoreszieren grün. Bei gesunden Menschen befinden sie sich in den Zellhüllen (blau: Zellkern). In Macies Fall ist nur ein Teil der Transporter in diesen Membranen. Der Zuckertransport ist daher stark beeinträchtigt
©Katrina Meyer/MDC

Biologie Verirrte Proteine

Wenn es in Proteinen zu genetischen Veränderungen kommt, kann das schwere gesundheitliche Folgen haben. Auch Veränderungen in Abschnitten der Moleküle, die als funktionslos galten, können Ursache für Erkrankungen sein. Dafür gibt es nun eine Erklärung

von Dr. Katrina Meyer

Als Macie ein Jahr alt war, bemerkten ihre Eltern zum ersten Mal dieses Zucken in ihren Ärmchen und Beinchen. Wenn sie hungrig oder müde war, schien das immer öfter vor­zu­kommen. Als Macie dann eines Tages für einige Momente ganz benommen war, nahm auch der Kinder­arzt die Sorgen ernst: Macie litt unter Epilepsie.

Es folgten fast zehn Jahre mit wechselnden Diagnosen und Therapien, bis Macie kurz vor ihrem elften Geburts­tag erfuhr, dass sie diese epileptischen An­fälle hat, weil ihr Gehirn nicht genügend mit Energie versorgt wird. Sie leidet am sogenannten GLUT1­Defizit-Syndrom. Der wichtigste Energie­lieferant für unser Gehirn ist Zucker. Nur kann dieser nicht ohne Hilfe die geheimnis­volle Barriere über­winden, die Blut­bahn und Gehirn­gewebe trennt. Diese Blut-Hirn-Schranke lässt nur bestimmte Substanzen in unser empfindliches Denk­organ.

Macies Eltern erfuhren nun, dass das Protein, das die Zucker­moleküle aus dem Blut durch die Schranke ins Gehirn transportiert, bei ihrer Tochter anders zusammen­gebaut ist als bei den meisten Menschen. Das Merk­würdige jedoch war, dass bei ihr nur ein einziger Baustein, an einer scheinbar unwichtigen Stelle des Proteins, ausgetauscht war.

Auch wenn Macies GLUT1-Defizit-Syndrom äußerst selten ist, ist die Veränderung in ihren Genen eine von Zehn­tausenden, bei denen einzelne Proteine, die elementaren Bau­steine und Funktions­träger unseres Körpers, genetisch bedingt verändert sind. Und das kann zu schweren Krank­heiten führen. Uns machte besonders stutzig, dass diese Ver­än­derungen auch an Stellen der Proteine fatal sein können, denen bislang nicht viel Bedeutung ­zugemessen wurde und die als mehr oder weniger funktions­los galten. Doch wie können bestimmte Veränderungen in diesen Regionen zu Krankheiten führen?

Vor der mikroskopischen Untersuchung markierte­ Katrina Meyer die Zuckertransporter mit einem fluoreszierenden Farbstoff. So lassen sich ihre Positionen in Zellkulturen bestimmen
©Ingo Knopf
Vor der mikroskopischen Untersuchung markierte­ Katrina Meyer die Zuckertransporter mit einem fluoreszierenden Farbstoff. So lassen sich ihre Positionen in Zellkulturen bestimmen

Proteine verrichten ihre Aufgaben oft nicht ganz alleine, sondern in Team­work. Dabei können sie sich zu stabilen Komplexen zusammen­schließen, in anderen Fällen geht es auch nur um die kurze ­Weiter­gabe von Informationen. Es gibt ­Beispiele, bei denen genau die scheinbar funktions­losen ­Regionen der Proteine für diesen kurzen Informa­tions­aus­tausch verantwortlich sind.

Und so wollten wir herausfinden, ob sich diese Inter­aktionen bei normalen und bei mutierten Proteinen von­einander unter­scheiden.

Da Proteine mit Hunderten anderen Proteinen wechsel­wirken können und oft nicht bekannt ist, welches mit welchem inter­agiert, ist ein spezielles Analyse­verfahren not­wendig. Bestens geeignet dafür: das Massen­spektro­meter. Selbst aus der komplexesten Protein­mischung kann damit die Masse jedes einzelnen bestimmt und daraus die Zusammen­setzung ermittelt werden.

Tatsächlich zeigte sich, dass viele der mutierten Proteine ihre Präferenzen verändert hatten und nun mit anderen Proteinen inter­agierten. Unter diesen mutierten Formen waren drei besonders auf­fällig, da sie mit den gleichen Protein­partnern neue Kontakte eingingen. Bei allen mutierten Proteinen handelte es sich um sogenannte Trans­membran­proteine. Diese haben ihren Platz in der Membran, die jede Zelle wie eine schützende Burg­mauer umgibt. Trans­membran­proteine kann man sich wie Burg­wächter vorstellen, die entscheiden, welche Substanzen in die Zelle ­hinein­dürfen und welche nicht oder auch welche Informationen in die Zelle weiter­gegeben werden sollen.

Eine weitere Gemeinsamkeit: In allen drei Fällen waren die gleichen Protein­bau­steine gegen­einander aus­getauscht worden, nämlich Prolin gegen Leucin. Außerdem lagen als Folge in den mutierten Proteinen stets zwei Leucin­moleküle neben­einander. Und dies ist bemerkens­wert, denn zwei benachbarte Leucine sind für spezielle Transport­proteine ein Signal. Es ist eine Anweisung, die Trans­membran­proteine von der Zell­membran ins Zell­innere zu leiten.

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Eigentlich ist dieser Prozess, die sogenannte Endozytose, völlig normal und lebens­wichtig. Doch kann er fatale Folgen haben, wenn er fehler­haft aus­gelöst wird. In diesem Fall ist das Signal falsch – die Trans­membran­proteine senden es nur deshalb aus, weil es in einem ihrer eigentlich für unbedeutend gehaltenen Abschnitte zu einer Mutation gekommen ist. Die Folge: Die Trans­port­proteine bekommen die falsche Anweisung und ziehen die Burg­wächter von ihren Posten ab.

Könnte das auch der Grund für den fehlerhaften Zucker­transport in Macies Kopf sein? Ist Macies Variante des Zucker­transporters vielleicht gar nicht funktions­unfähig, sondern sitzt einfach nur an der falschen Stelle?

Um das zu untersuchen, kultivierten wir Zellen aus der Haut von Macies Oberarm – und markierten ihre Glukose­transporter mit fluores­zentem Farb­stoff. Unter dem Mikroskop sehen die aneinander gedrängten Zellen mit gesunden Trans­membran­proteinen, jede mit dem fluores­zierenden Protein in der Burgmauer, fast aus wie Honigwaben (siehe Beitrags­bild). Doch Macies Zellen sind gänzlich mit einem Punkt­muster durchsetzt. Die Burg­mauer ist fast nicht zu erkennen – und das heißt, dass sich ihre Burg­wächter tatsächlich nicht an ihren Posten befinden. Der Zucker­transport ist unmöglich.

Unsere Vermutung war also richtig. „Aber sofort drängte sich die nächste Frage auf”, sagt Matthias Selbach, Leiter der Arbeits­gruppe Proteom Dynamik am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin. „Nun wollten wir wissen, ob Macies Trans­membran­protein wieder Zucker transportieren kann, wenn wir es in die Zell­membran zurück­bringen.”

Dazu entfernten wir zunächst mithilfe einer molekular­biologischen Methode jene Transport­proteine, die das Trans­membran­protein fälschlicher­weise ins Zell­innere gelenkt hatten. Und tatsächlich: Die Burg­wächter kehrten auf ihre Position in der Zell­wand zurück! Wenn man diese Zellen nun mit Zucker fütterte, nahmen sie auch deutlich mehr davon auf, als jene Zellen, in denen wir die Trans­port­proteine nicht entfernt hatten. Die Erklärung für Macies Leiden war also gefunden: Der Trans­port­weg für Zucker in ihr Gehirn war unter­brochen, weil die entsprechenden Trans­membran­proteine nicht dort waren, wo sie gebraucht wurden – in der Zell­membran.

Sind vielleicht noch viel mehr Menschen krank, nur weil eigentlich funktions­fähige Proteine an die falsche Stelle transportiert werden? Tatsächlich stießen wir beim Durch­forsten von Datenbanken auf elf Protein­varianten, in denen Trans­membran­proteine das Signal aussenden, von ihrem Posten abgezogen zu werden.

Macie bekämpft ihre Symptome, indem sie ihr Gehirn mit einem anderen Energie­träger versorgt. Sie verzichtet fast voll­ständig auf Zucker und Kohlen­hydrate und bringt so ihren Körper dazu, statt­dessen Fett als neue Energie­quelle zu erschließen, die sogenannten Keton­­körper. Dadurch lindert sie die Auswirkungen ihres Leidens, das eigentliche Problem ist damit aber natürlich nicht behoben. Menschen, die unter anderen Folgen solch fehlerhaft lokalisierter Proteine leiden, haben diese Möglichkeiten oft nicht. Doch kann dieses neue Wissen über fehl­geleitete Proteine eine wichtige Grund­lage sein, zukünftig auch andere Erkrankungen mithilfe ziel­gerichteter Medikamente zu behandeln.

Waisen der Medizin

Es gibt Krankheiten, die sind so selten, dass sie kaum erforscht sind. Doch das ändert sich

Jenes GLUT1-Defizit-Syndrom, unter dem Macie leidet, wurde 1991 entdeckt und ist extrem selten. Das ist typisch für die sogenannten seltenen Erkrankungen, die so heißen, wenn sie unter 2000 Menschen höchstens einmal auftreten.

Doch bedeutet dies nicht, dass nur wenige davon betroffen sind. Denn es gibt rund 8000 seltene Erkrankungen. So schätzen Experten, dass allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen damit leben müssen. 75 Prozent davon sind Kinder, fast ein Drittel stirbt vor dem fünften Lebens­jahr. Etwa 80 Prozent der Leiden sind genetisch bedingt.

Für die Betroffenen bedeutet das stets ein mehrfaches Schicksal. So ist die Diagnose seltener Er­krankungen viel lang­wieriger – im Schnitt besteht erst nach fünf bis sechs Jahren Gewissheit. Doch selbst dann können Patienten nicht immer auf Hilfe hoffen. Denn wegen der geringen Fall­zahlen sind diese Kran­kheits­bilder entsprechend wenig erforscht. Weil Pharma­konzerne überdies die Kosten für die Entwicklung von Medikamenten scheuen, schließt sich hier ein Teufels­kreis. Menschen mit solchen Erkrankungen werden deshalb auch „Waisen der Medizin“ genannt: Sie haben niemanden, der ihnen hilft.

Doch es tut sich was. So lassen neue Forschungen vermuten, dass es sich bei Massen­leiden wie Rheuma, Diabetes oder auch Parkinson in Wahrheit um eine Viel­zahl seltener Erkrankungen handelt, deren gezielte Behandlung viel­versprechend ist und am Ende viel mehr Menschen hilft. Über­dies profitieren Unternehmen von Förder­programmen der Europäischen Union und investieren zunehmend in diese Markt­lücke. Mit Erfolg: Von allen Medikamenten mit neuem Wirkstoff, die in Deutschland 2014 bis 2018 auf den Markt kamen, gehörte bereits ein Drittel zu den „Waisen­medikamenten“ (Orphan Drugs).

Von Joachim Schüring

Fallzahlen einiger seltener Erkrankungen in der Europäischen Union
©vfa, 2009
Fallzahlen einiger seltener Erkrankungen in der Europäischen Union
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