Mädchen mit Magersucht
©PjrTravel/Alamy Stock Foto

Neurowissenschaften „Ich weiß ja, dass ich dünn bin“

Frauen, die unter Magersucht leiden, über­schätzen aufgrund eines Wahr­nehmungs­fehlers ihr Köper­­gewicht, so die gängige ­Meinung von Forschenden. Doch neue Untersuchungen zeigen: Die ­Patientinnen haben offenbar andere ­Vorstellungen von einem ­erstrebens­­werten Körper

von Dr. Simone Behrens

Sandra betritt das Gebäude mit festem Schritt. Interessiert schaut sie sich um, als wir ihr den Körper­scanner zeigen. Er besteht aus Projektoren, Kameras und Blitz­lichtern, die rund um eine kleine Platt­form arrangiert sind. Während sich die 23-Jährige darauf­stellt, projiziert der Scanner ein kaum sichtbares Punkt­muster auf ihren Körper. Aus diesem entsteht später im Computer ein drei­dimensionales Abbild ihres Körpers.

Für die Aufnahmen muss Sandra möglichst eng anliegende Kleidung tragen. Bei der Suche danach landen wir bei Kinder­größe 128 – und einigen Sicher­heits­nadeln. Es schlabbert sonst an der Hüfte. Dann blitzt es ein paar Mal, und wir bringen Sandra zurück in die Klinik. Wir nehmen den Aufzug, denn Sandra soll sich so wenig wie möglich bewegen. Sonst ist ihr Gewichts­ziel gefährdet. Sandra gehört zu dem einen Prozent junger Frauen, die hier­zu­lande unter Mager­sucht leiden.

Das öffentliche Interesse an der Essstörung ist groß, zugleich sind ihre Ursachen nach wie vor rätselhaft. Die Patientinnen – es sind meist junge Frauen – essen nicht nur zu wenig. Sie haben auch eine Körper­bild­störung und große Angst vor der Zunahme. Viele Forschende vermuten, dass eine Art Wahr­nehmungs­fehler für ihr Streben nach Unter­gewicht verantwortlich ist. Sie gehen davon aus, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, ihr Körper­gewicht richtig einzuschätzen und daher nicht erkennen, wenn sie ein normales Gewicht erreicht haben.

Dafür sprechen viele Studien, in denen Patientinnen ihre Körper­dimensionen über­schätzten. Doch als wir diese systematisch auswerteten, wurden wir skeptisch. Die Über­schätzung ist nämlich am größten in Studien, in denen Patientinnen ihre Maße gar nicht direkt, sondern abstrakt abschätzen sollten. Dies geschieht oft im Rahmen der Therapie, wenn die Frauen den Umfang ihres Bauches oder ihrer Hüfte mithilfe eines Seils bestimmen sollen. Bei Studien, die auf der Betrachtung von Fotos beruhen, fällt diese Über­schätzung hingegen deutlich geringer aus. Dabei wurden den Frauen Bilder gezeigt, die neben der realistischen Darstellung auch mithilfe eines Bild­bearbeitungs­­programms in die Breite gezogen wurden. Doch diese „Gewichts­zunahmen“ entsprechen in ihren Propor­tionen nicht der Realität. Um heraus­zu­finden, ob die Über­schätzung wirklich auf Wahr­nehmungs­problemen beruht, entwickelten wir eine Methode, mit der wir lebens­nahe drei­dimensionale Abbilder von Körpern erstellen, die wir dann im Computer naturgetreu zu- oder abnehmen lassen können.

Bevor Sandra in die Klinik kam, hat sie binnen eines Jahres 14 Kilo­gramm abgenommen. Am Ende aß sie fast gar nichts mehr. Sie ist 1,60 Meter groß und wiegt nur noch 38 Kilo­gramm. Sie weiß, dass ihr Unter­gewicht lebens­gefährlich ist, eine Erkältung könnte sie umbringen. Um zuzunehmen, soll sie täglich drei Haupt- und drei Zwischen­mahl­zeiten zu sich nehmen. Jedes Mal muss sie sich zwingen. Zweimal wöchentlich wird sie gewogen, jedes zusätzliche Kilo fühlt sich für sie wie eine persönliche Niederlage an.

Die Autorin Simone Behrens im Körperscanner. Er projiziert ein kaum sichtbares Punkt­muster auf den Körper, aus dem im Computer ein ­dreidimensionales Abbild berechnet wird
©Ingo Knopf
Die Autorin Simone Behrens im Körperscanner. Er projiziert ein kaum sichtbares Punkt­muster auf den Körper, aus dem im Computer ein ­dreidimensionales Abbild berechnet wird

Um die Körperbildstörung besser zu verstehen, haben wir 24 Frauen mit Mager­sucht, darunter auch Sandra, sowie 24 Kontroll­probandinnen zum Foto­­termin gebeten und zeigen ihnen dann die Bilder. Wir wollen wissen, wie die Frauen auf die drei­dimensionalen Abbilder ihres eigenen Körpers sowie die anderer Frauen reagieren. Dabei verändern wir die jeweiligen Körper­maße mithilfe eines Programms, das Tübinger Informatiker am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme und am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik geschrieben haben.

Geduldig arbeitet sich Sandra durch die verschiedenen Teile des Experimentes. Sie bewertet Gewichts­­varianten ihres digitalen Abbildes, anschließend soll sie sich möglichst genau selbst einschätzen und dann das Bild ihres „idealen Körpers“ auswählen. Nach 30 Minuten fahren wir zurück in die Klinik. Ich muss sie an den Aufzug erinnern, fast hätte sie die Treppe genommen. Zunehmen kann ganz schön schwierig sein.

Nach Auswertung der Daten war das Ergebnis klar: Keine der Teilnehmerinnen, auch keine der Patientinnen, über­schätzte das eigene Gewicht. Statt­dessen sahen sich sogar alle etwas dünner, als sie in Wahrheit sind. Statt Fett zu sehen, wo keines ist, übersahen die Teilnehmerinnen Fett, wo sie es nicht sehen wollten. Während sie eine Gewichts­zunahme sofort entdeckten, akzeptierten sie auch fünf bis zehn Prozent dünnere Körper bereit­willig als ihren eigenen.

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Dass es sich hierbei um einen grund­sätzlichen Wahr­nehmungs­fehler handelt, ist unwahrscheinlich. Bei der Einschätzung einer künstlich generierten anderen Frau lagen die Teilnehmerinnen nämlich alle richtig. Selbst drei Prozent Gewichts­veränderungen fielen ihnen sofort auf.

Deutliche Unterschiede zeigten sich bei der Einschätzung des „idealen Körpers“: Die gesunden Frauen fanden sich selbst in schlankem Normal­gewicht am schönsten. Frauen mit Magersucht hingegen gefiel ihre Figur dann am besten, wenn sie zwischen ihrem im Versuch unterschätzten und ihrem tatsächlichen Gewicht lag. Ihr „idealer Körper“ war also extrem unter­gewichtig. Vielleicht liegt hier der Grund, wa­rum Frauen mit Mager­sucht häufig äußern, sie fühlten sich trotz ihres Unter­gewichts gerade richtig oder sogar zu dick. Sie wissen zwar, wie sie aussehen, und können auch Gewichts­unter­schiede präzise erfassen. Ihre Vorstellungen von einem erstrebens­werten Körper weichen aber stark von dem gesunder Frauen ab.

Als ich Sandra von den Ergebnissen erzähle, zeigt sie mir ein Handy­foto. Zu sehen ist eine lebens­große Zeichnung ihrer Silhouette, die sie in der Kunst­therapie erstellt hat – etwa eineinhalb Mal so breit, als sie wirklich ist. „Ich weiß ja, dass ich dünn bin und wie ich aussehe“, sagt Sandra. Gleich­zeitig empfinde sie sich als massig und breit. Körper­empfindungen wie ein voller Bauch machten dieses Gefühl oft noch schlimmer. Richtig bewusst geworden sei ihr das erst, als sie sich mit der Zeichnung aus­einander­gesetzt habe. Es helfe ihr, sich diese unter­schiedlichen Körper­wahr­nehmungen bewusst zu machen und einen Umgang damit zu suchen.

Die Prognose für Patientinnen mit Magersucht ist durchwachsen. Laut Lang­zeit­studien erholt sich nur etwa die Hälfte der Betroffenen voll­ständig. Viele erreichen zwar ein gesundes Gewicht, kämpfen aber weiterhin mit ihrer Körper­unzufrieden­heit und Angst vor Gewichts­zunahme. Etwa 10 bis 15 Prozent der Patientinnen sterben an den Folgen der Unter­ernährung.

Um Patientinnen mit Magersucht besser helfen zu können, müssen die Therapien optimiert werden. Ein Wahr­nehmungs­fehler im Sinne eines gestörten Erkennens des eigenen Gewichtes, wie ursprünglich vermutet, wäre schwierig zu behandeln. Gegen die „gefühlte Körper­fülle“ oder Ängste gibt es bereits bewährte therapeutische Techniken. Bisher werden diese vor allem bei anderen Störungen eingesetzt, lassen sich aber für die Behandlung von Ess­störungen entsprechend anpassen. Wir wollen nun verschiedene therapeutische Strategien testen und dabei fragen, wie wir mager­süchtigen Patientinnen helfen können, ihre Körper­bild­störung zu überwinden – beispiels­weise, indem es uns gelingt, dass sie sich an ein simuliertes Normal­gewicht in der virtuellen Realität gewöhnen.

Wie ein Fädchen

Auch Jungen können unter Magersucht leiden. Oft bleibt sie aber unentdeckt

„Am vierten Tage endlich gar, der Kaspar wie ein Fädchen war. Er wog vielleicht ein halbes Lot – und war am fünften Tage tot.“ Es ist bemerkens­wert, dass es in dieser frühen Beschreibung der Mager­sucht aus dem Jahr 1845 um einen Jungen ging: den Suppen-Kaspar aus Heinrich Hoffmanns „Struwwel­peter“. Denn bis heute wird die Anorexia nervosa meist nur mit Frauen in Verbindung gebracht.

Die Statistik scheint das zu bestätigen. Nur rund acht Prozent aller Mager­süchtigen sind demnach männlich. Aller­dings endet das Leiden bei Männern öfter fatal. Bei fast jedem Fünften führt es zum Tode (bei den Frauen stirbt jede zehnte).

Ein Grund dafür könnte sein, dass Essstörungen bei Jungen und Männern später auffallen und therapiert werden. Ein anderer, dass männliche Patienten häufiger zusätzlich von Angst­störungen oder Depressionen heim­gesucht werden und öfter zu Drogen greifen. Über­dies hungern Jungen oft aus anderen Gründen. Während Mädchen besonders dünn sein wollen, streben Jungen eher nach einem idealisierten Männer­körper.

Wie bei der Anorexia nervosa nimmt das eigene Aussehen eine überwertige Bedeutung für den Selbstwert ein. Betroffene ordnen daher ihr Ess- und Bewegungs­verhalten dem Streben nach dem Wunsch­aus­sehen unter. Sie treiben gegebenen­falls bis zur Erschöpfung Sport und hungern extrem. Wie bei der Mager­sucht haben sie oft kein Krank­heits­bewusst­sein, obwohl sie ihrem Körper schaden. Da die Folgen weniger augen­scheinlich sind, bleibt die Störung oft unentdeckt.

Die Dunkelziffer könnte bei den männlichen Patienten also deutlich höher sein. Das stellt Ärzte vor die Heraus­forderung, sich auf die geschlechts­spezifisch unter­schiedlichen Ausprägungen der Mager­sucht einzustellen.

Von Joachim Schüring

Suppenkasper
©gemeinfrei
„Ich esse keine Suppe! Nein!“ – eine frühe Geschichte der Magersucht
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