Biologie Klein, aber oho
Wenige Milliliter Blut genügen, um „Mini-Brustgewebe“ zu erzeugen, das Milchproteine produziert. Als Schlüsselwerkzeug in der Brustkrebsforschung hilft es, Krankheitsmechanismen zu verstehen. Doch wie entstehen solche Miniaturorgane?
Draußen dämmert es bereits, doch die Neonlampen des Labors erleuchten den Raum taghell. Sie trägt einen weißen Kittel, hat die Haare zusammengebunden, die Laborhandschuhe übergestreift und nimmt die Blutprobe behutsam entgegen. Höchste Sorgfalt und Sauberkeit sind jetzt geboten. Für ihr Vorhaben genügen fünf Milliliter. Ihre Mission: das Heranzüchten von „Mini-Organen“, die in Aufbau und Funktion ihren natürlichen Pendants verblüffend ähnlich sind.
Diese Szene könnte einem Science-Fiction-Roman entstammen, ist aber tatsächlich der faszinierende Forschungsalltag vieler Stammzellbiolog:innen. Um aus gewöhnlichen Körperzellen wie Blut-, Haut- oder Haarwurzelzellen Mini-Organe herzustellen, müssen diese Körperzellen in einem ersten Schritt in den „pluripotenten Stammzellstatus“ gezwungen werden.
Pluripotente Stammzellen sind wahre Alleskönner, die sich durch zwei bemerkenswerte und einzigartige Eigenschaften auszeichnen: Zum einen sind sie in der Lage, identische Kopien ihrer selbst zu erzeugen, und zum anderen besitzen sie das Potenzial zur Differenzierung. Das heißt, sie können sich in alle spezialisierten Zelltypen des Körpers verwandeln, da sie noch nicht auf einen Gewebetyp festgelegt sind.
Man kann sich pluripotente Stammzellen als unbeschriebene Blätter Papier vorstellen, die alle möglichen Formen annehmen und unterschiedlichen Zwecken dienen können: Sie können zu einem Papierflieger gefaltet, bunt bemalt oder mit Notizen versehen werden. Hat das Blatt erst einmal seine Bestimmung gefunden, ist es nur schwer möglich, es wieder in seinen ursprünglichen unbeschriebenen Zustand zurückzuversetzen. Ähnlich gilt das auch für Zellen, die sich bereits spezialisiert haben. Doch genau das ist dem Team um Shinya Yamanaka gelungen. Der japanische Wissenschaftler erhielt 2012 den Nobelpreis für die bahnbrechende Entdeckung, dass ausgereifte Zellen in Stammzellen umgewandelt werden können.
Um reife Körperzellen in den Zustand des „unbeschriebenen Blattes“ zu versetzen, bedarf es der Zugabe sogenannter Transkriptionsfaktoren. Diese Faktoren werden über Viren oder andere DNA-Trägersysteme in die Zellen eingeschleust und starten dann ein komplexes Gen-Ableseprogramm, um den pluripotenten Stammzellzustand einzuleiten. Bildlich gesprochen wird der Papierflieger entfaltet, werden die Farben gelöscht und die Notizen ausradiert.
Nach dem Einbringen der Transkriptionsfaktoren werden die Zellen unter geeigneten Umgebungsbedingungen kultiviert. Nach etwa drei Wochen ist es so weit: Unter dem Mikroskop sind die Stammzellen als pflastersteinartige, dicht gepackte Zellkolonien deutlich zu erkennen. Nach einer ausführlichen Qualitätskontrolle der Stammzellen können diese nun unter kontrollierten Kulturbedingungen zu dreidimensionalen Mini-Organen – auch Organoide genannt – heranwachsen.
Es ist noch nicht möglich, aus Stammzellen voll funktionsfähige Organe zu züchten. Doch durch Zugabe bestimmter molekularer Signale lassen sich die pluripotenten Zellen so steuern, dass sie sich zu einfachen Organstrukturen entwickeln. Schickt man die Stammzellen beispielsweise in Richtung „Herz“, entsteht zwar kein vollständig ausgebildetes Organ. Aber die dreidimensionalen Strukturen fangen an, in wellenförmigen Kontraktionen zu „schlagen“. Von Stammzellen abgeleitete Mini-Gehirne bilden aktive neuronale Netzwerke aus, während zum Beispiel Nieren-Organoide dabei helfen, die Toxizität bestimmter Medikamente zu erproben.
Aufgrund dieses herausragenden Potenzials sind Organoide in den letzten Jahren zu regelrechten Superstars in der Krankheitsforschung aufgestiegen, denn sie lassen sich maßgeschneidert an ein bestimmtes Krankheitsbild anpassen und ermöglichen Studien, die gut auf Patient:innen übertragbar sind. So finden Organoide auch in der Krebsforschung eine bedeutsame Anwendung. Unsere Aufgabe bestand darin, die Organoide im Kampf gegen den Brustkrebs zu nutzen. Die mit etwa 30 Prozent aller Krebsfälle häufigste Krebserkrankung bei Frauen ist gefährlich – vor allem, wenn die Krebszellen metastasieren, also bereits andere Organe befallen haben.
Krebs entsteht, wenn krankhaft veränderte Zellen den Abwehrmechanismen unseres Körpers entkommen, sich übermäßig vermehren und ihre unmittelbare Gewebsumgebung so manipulieren, dass der Tumor zu einem komplexen Gebilde aus entarteten Zellen, Blutgefäßen, Immunzellen und anderen biologischen Bestandteilen heranwächst. Da jeder Tumor so individuell ist wie die betroffene Person selbst, ist die Entwicklung effektiver Behandlungsstrategien eine große Herausforderung. Zu den bislang ungeklärten Fragen gehört, wie das unmittelbar an den Tumor angrenzende Brustgewebe auf den Tumor einwirkt. Ein besseres Verständnis darüber würde uns dabei helfen, die biologische Wechselwirkung von Tumoren mit ihrer Umgebung und damit das Fortschreiten von Brustkrebs besser zu verstehen.
Was wir dazu benötigten, war ein geeignetes Testsystem, das zum einen aus einem Tumor besteht, der in seiner Zusammensetzung und Struktur einem „echten“ Tumor im Körper ähnlich ist, und auf der anderen Seite aus gesundem Brustgewebe. In Kooperation mit dem Universitätsklinikum Tübingen und mit dem Einverständnis der Patientinnen erhielten wir frisches Brustkrebsgewebe, das wir zu mikroskopisch kleinen Tumorfragmenten verarbeiteten. Diese Tumorfragmente haben den Vorteil, dass sie die Eigenschaften des eigentlichen Tumors in kleinem Maßstab widerspiegeln, sodass wir zeitgleich viele Experimente durchführen können. Brustkrebs entsteht im weiblichen Organismus hauptsächlich in den Milchdrüsen oder den Milchgängen und grenzt hierbei an Zellen an, die noch nicht entartet sind. Ist es denkbar, dass diese gesunden Zellen dem Krebs zum Opfer fallen und sein Wachstum fördern?
Um Antworten auf diese Frage zu finden, kommen die Organoide ins Spiel. Wir erstellten zunächst pluripotente Stammzellen und wandelten diese dann in gesunde Brustgewebs-Organoide um. Diese enthalten – ähnlich wie echtes Brustgewebe – Milchdrüsen und Milchgänge und können sogar Milchproteine produzieren. Mithilfe bildbasierter Analyseverfahren konnten wir zeigen, dass die Tumormasse und die Invasivität (also das „Einwachsen“ des Tumors in seine Umgebung) in Gegenwart von gesundem Brustgewebe deutlich zunahmen – verglichen mit jenen Bedingungen, in denen nur ein Tumor, aber kein gesundes Brustgewebe vorhanden war. Dies galt insbesondere für fortgeschrittene Tumorstadien. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass spezifische Biomarker, die auf Tumoraggressivität, Invasivität und Metastasierung hinweisen, bei allen untersuchten Patientinnen in deutlich höheren Konzentrationen vorlagen, wenn gesundes Brustgewebe in der Umgebung vorhanden war.
Die Quintessenz unserer Forschung ist somit: Das an den Brusttumor angrenzende Gewebe kann das Tumorwachstum unter bestimmten Bedingungen tatsächlich fördern und beschleunigen. Die Organoide dienten uns hier als hilfreiches Werkzeug, um Zell-Zell-Interaktionen in einem realitätsnahen Ansatz zu untersuchen und so zu einem detaillierteren Verständnis des Krankheitsverlaufs und der mit der Metastasierung verbundenen Mechanismen beizutragen. Dieses System kann uns auch helfen, Tierversuche zu reduzieren und maßgeschneiderte therapeutische Ansätze für die Behandlung von Brustkrebs zu identifizieren.
In der Zukunft hoffen wir, dass uns von Patient:innen abgeleitete Organoide und Tumorfragmente als „Patienten-Avatare“ dienen: Diese basieren auf der Grundlage des individuellen „genetischen Fingerabdrucks“ des Tumors und sollen möglichst zeit- sowie kosteneffizient dabei helfen, personalisierte und zielgerichtete Therapiestrategien zu entwickeln. Werden diese Therapien frühzeitig angewandt, kann der Tumor der Möglichkeit beraubt werden, sich auszubreiten und sich in anderen Organen anzusiedeln. Gelingt dies, könnte die Lebenserwartung vieler Frauen weltweit erheblich erhöht werden.
Zum Thema
Präzisionsmedizin
Organoide – Hoffnung auf individuell zugeschnittene Therapien
Bei dem einen wirkt die Tablette gegen Migräne, beim anderen nicht. Was eine Arznei im Körper auslöst, kann individuell unterschiedlich sein. Ein viel bedeutsameres Beispiel: Wenn Frauen (selten auch Männer), die an Brustkrebs erkrankt sind, mit Herceptin behandelt werden, kann es sein, dass dieser Wirkstoff gegen den Tumor gar nichts ausrichtet, dafür aber mit heftigen Nebenwirkungen einhergeht. Denn helfen kann er nur, wenn der Tumor ein bestimmtes genetisches Merkmal aufweist. Dieses Merkmal lässt sich vor der Therapie identifizieren.
Solche Beispiele befeuern die Hoffnungen in die „personalisierte Medizin“ – auch „Präzisionsmedizin“ genannt. Gemeint ist damit die Gabe von Arzneien, die möglichst genau auf die individuellen Voraussetzungen von Patient:innen zugeschnitten sind.
Bisher ist der Individualisierungsgrad in der Regel noch auf größere Patientengruppen beschränkt, bei denen bestimmte biologische Merkmale ähnlich sind. Damit die Präzisionsmedizin noch treffsicherer, noch personalisierter werden kann, müssen Erkrankungen wie Krebs vor allem auf molekularer Ebene besser verstanden werden.
Zum Beispiel anhand von Organoiden. Diese sind deshalb vielversprechend, weil sie aus dem eigenen Gewebe von Patient:innen hervorgingen – und somit genetisch identisch sind. An ihnen lassen sich verschiedene Medikamente ausprobieren und so vorab die wirksamsten für die eigentliche Therapie auswählen.
Hoffnungen setzen auch Forscher:innen aus der regenerativen Medizin in Organoide. Denn werden sie aus gesunden menschlichen Zellen generiert, können sie transplantierbares Gewebe, eines fernen Tages vielleicht sogar ganze Organe liefern. — J. Schüring