„Ins Ungeschützte hinaustreten“
Beide schlüpfen ständig in neue Rollen: Martina Gedeck als Schauspielerin und Günter M. Ziegler in seiner Funktion als Forscher, Lehrer und Präsident der Freien Universität Berlin. Ein Gespräch über Konzentration, Präsenz – und Leidenschaft
Frau Gedeck, Sie verkörpern in jedem Film oder Theaterstück eine andere, Ihnen wesensmäßig oft fremde Figur. Wie tasten Sie sich an eine neue Rolle heran?
Gedeck: Ich arbeite das Material, meist einen Text, sehr genau durch, lote seine Möglichkeiten und Verbindungen zur Gegenwart aus. Natürlich lerne ich ihn. Seine Worte und Sätze müssen im Körper angesiedelt sein und mit völliger Natürlichkeit aus mir herauskommen. Texte sind für mich wie Blätter, die auf dem Wasser liegen. Das Wasser ist das, worum es eigentlich geht – Sätze sind wie die Spitze eines Eisberges. Meine wesentliche Arbeit ist, ihn zu erforschen und den emotionalen Unterbau zu erreichen.
Haben Sie dabei das Publikum schon im Hinterkopf?
Gedeck: Oft erarbeite ich Texte laut, um mir gewahr zu sein, dass ich mich an jemanden richte, den ich für diese Figur interessieren möchte. Zwischen diesem „Jemand“ und mir muss ein Dialog entstehen, eine Verbindung.
Herr Ziegler, Sie sind Mathematiker und „bespielen“ die akademische Bühne seit 2018 in der Rolle als Präsident der Freien Universität Berlin. Kann man von beruflichen Gemeinsamkeiten mit Frau Gedeck sprechen?
Ziegler: Sicher, ja. Mir ist bewusst, dass ich jetzt, in meiner neuen Funktion, eine andere Rolle habe, in der ich etwas repräsentiere – nämlich eine große und renommierte Universität. Dazu gehört dann auch eine bestimmte Arbeitskleidung, sozusagen ein Kostüm. Dafür habe ich mir einige neue Anzüge besorgt, als Matheprofessor bin ich in Hemd und Jeans genauso gut angezogen gewesen, Anzüge waren im Alltag eher eine Ausnahme.
Wenn es jemandem gelingt, den Funken zum Publikum überspringen zu lassen, ist oft von Präsenz die Rede. Auch Forschende sprechen vor vollen Hörsälen – wie wichtig ist diese Eigenschaft in der Wissenschaft?
Ziegler: Man geht in die Wissenschaft, weil man spezifische Talente dafür hat, besondere Fähigkeiten, Neugier und Ehrgeiz, etwas herausfinden zu wollen. Am Ende aber muss man seine Arbeit erklären können und es schaffen, sie anderen überzeugend darzustellen, zum Beispiel, dass man etwas Spannendem auf der Spur ist. Man muss das Interesse für die Arbeit und die Ergebnisse wecken, im besten Fall begeistern. Sonst wird man nicht erfolgreich. Das braucht Übung. Erfahrung ist in der Forschung, aber auch auch in der Lehre wichtig.
Ist Bühnenpräsenz Gabe oder Übung, Frau Gedeck?
Gedeck: Ich finde, jeder Mensch hat Präsenz – manchen fällt es bloß leichter, mit anderen in Kontakt zu treten. Eigentlich geht es darum, eine Aufgabe mit der eigenen Authentizität, dem eigenen Wollen zu füllen und ins Offene, Ungeschützte hinauszutreten. Ohne eigene Haltungen nutzen einem weder die Rolle noch das Kostüm. Die Menschen verlieren dann das Interesse, selbst wenn man stimmlich gut und verständlich spricht. Greta Thunberg zum Beispiel spricht sehr leise und hat das Sprechen nicht gelernt. Aber wenn sie auftritt, hört man ihr zu. Sie ist glaubwürdig. (Zu Ziegler:) Ich finde in diesem Zusammenhang interessant, dass Sie jetzt etwas Neues machen und sich darin genauso bewegen wie vorher.
Ziegler: Ja, denn ich kenne die Universität seit vielen Jahren als Wissenschaftler, und meine Agenda, also was ich als Präsident bewegen will, kommt aus diesem Verständnis für die Einrichtung und ihre Mitglieder. Das hilft mir, authentisch zu handeln. Im Kern will ich immer noch dasselbe, nur in anderer Funktion.
Jetzt sind Sie Wissenschaftskommunikator, sprechen für und über Forschung und Lehre. Können Sie in wenigen Sätzen erklären, worüber Sie als Mathematiker forschen?
Ziegler: Darauf gibt es eine ganz einfache, ehrliche Antwort: Nein. Was ich als Mathematiker mache, ist kompliziert und technisch. Dass wir diese Schwierigkeit ernst nehmen, ist die Voraussetzung für Kommunikation. Es bedeutet, dass wir uns als Gesprächspartner gegenseitig ernst nehmen. Um Ihre Frage beantworten zu können, brauchen wir Zeit, eine sprachliche Basis und den Willen, uns nicht von dieser Herausforderung abschrecken zu lassen.
Wird die Kommunikation bei allgemeineren mathematischen Themen dann leichter?
Ziegler: Ich mache eine Unterscheidung: „Mathematik erklären“ kann man an Schule und Universität. Wenn ich aber öffentlich kommuniziere, dann kann ich eigentlich nur „von Mathematik erzählen“. Es gibt genug Geschichten, die ihre enorme Bedeutung vermitteln: Warum wir eigentlich ein bisschen mehr über Mathematik wissen sollten und darüber, was man mit mathematischen Methoden machen kann.
Gedeck: Ich habe Mathematik in der Schule immer unheimlich aufregend gefunden. Aber dann verliert man als normaler Mensch den Kontakt zu ihr. Man weiß, es gibt sie und dass viele Menschen so wahnsinnig verliebt in sie sind, interessanterweise oft auch Künstler oder Musiker. Und dass sie Zusammenhänge schafft und überall dahintersteckt.
Ziegler: Ich finde schön, wie Sie strahlen, wenn Sie über Mathematik reden. Das ist wirklich großartig. Ich glaube, Mathematik ist eigentlich eine sehr emotionale Sache: Es gibt ja auch Einzelne, die sagen, sie hätten die Mathematik schon immer gehasst.
Mit Science Slams und Ted Talks haben theatralische Liveformate in die Wissenschaftskommunikation Einzug gehalten. Was halten Sie davon?
Ziegler: Wenn ich Begeisterung wecken will, brauche ich ein Eventformat. Aber wenn ich Mathematikvorlesungen halte, bin ich unglaublich altmodisch. Weiße Kreide auf einer grünen Tafel eignen sich hervorragend, um Mathematik zu erklären. Außerdem braucht es Zeit: zum Wiederholen, zum Kapieren, zum Visualisieren, zum Durchdringen und um Verständnis zu entwickeln. Menschen nehmen Wissen auf unterschiedliche Weise auf.
Es gibt Kurse für Schulkinder, in denen sie lernen, zu lernen. Heißt das, dass man ihnen nicht mehr genügend Zeit gibt, zu entdecken, wie man lernt?
Gedeck: Viele Menschen wissen nicht mehr, dass Lernen ein Prozess ist.
Ziegler: Eine der Grundfähigkeiten, um in der Wissenschaft etwas zu bewegen, ist Konzentrationsfähigkeit. Die Amerikaner haben dafür das schöne deutsche Wort „Sitzfleisch“ übernommen. Sich hinsetzen, sich konzentrieren und fokussieren, an der Sache dranbleiben, bis man weitergekommen ist. Und nicht zwischendurch E-Mails checken und die Welt retten …
Gedeck: Das geht nicht!
Ziegler: Das geht nicht, und ich schimpfe mich selber dafür aus, wenn ich merke, dass mir das verlorengeht. Dass mir das …
Gedeck: … zerfasert.
Ziegler: Genau, diese Zerfaserung ist tödlich, wenn man wirklich etwas herauskriegen möchte. Ich erinnere mich gut an meine erste wissenschaftliche Publikation, Mitte der 1980er-Jahre, als Doktorand am MIT (Massachusetts Institute of Technology, die Red.). Ich hatte mich an einem Samstag früh morgens hingesetzt und mich in eine bestimmte Fragestellung verbissen. Erst habe ich noch meine Simon & Garfunkel-Kassette immer wieder umgedreht. Aber dann brauchte ich auch diesen Klangteppich nicht mehr, so vertieft war ich – allein in der Wohnung, mit Papier und Tinte. Nachmittags um vier hatte ich das Problem gelöst.
Das war vor Internet und Mobiltelefon. Was raten Sie beide jungen Menschen, die heute auf ihren jeweiligen Feldern etwas erreichen wollen?
Ziegler: Das ist vielleicht nicht bei jedem so, aber für mich ist die erste Voraussetzung: an den Schreibtisch – und erst einmal abräumen, Übersicht schaffen, Ablenkungen beseitigen! Ich glaube auch, dass es wichtig ist, immer wieder mal ein Buch von Anfang bis Ende durchzulesen, um zu erfahren, was es bedeutet, an einer Sache dranzubleiben.
Gedeck: Ich brauche einen absoluten Raum, in dem ich arbeite. Ich schreibe mir alle meine Texte und Dialoge in ein kleines Büchlein, dass ich bei mir trage. Die Ablenkung ist heute größer, aber Leidenschaft gibt es immer noch: Plötzlich entdeckt man etwas, das einen völlig unabhängig von Verpflichtungen oder von Aufgabenstellungen ganz und gar beschäftigt. Diesen Weg gingen und gehen wenige. Aber sie – Bruno Ganz oder Hannelore Elsner beispielsweise – werden bleiben.
Sorgt Leidenschaft für Frustrationstoleranz?
Gedeck: Ich arbeite einfach jeden Tag. Manchmal geht es gar nicht, manchmal komme ich sehr weit, manchmal geht ein Knoten auf, oder mir wird plötzlich ganz was anderes klar. Wenn ich mich permanent mit etwas befasse und es dann für bestimmte Zeit ruhen lasse, fängt es plötzlich von selber an, in mir zu arbeiten, ohne dass es mich anstrengt. Das ist wie bei einem Ölgemälde, es sind verschiedene Schichten, dann hat die Farbe plötzlich eine Tiefe. Und auf einmal hast du etwas gefunden, was trägt, was schön ist und wo du dann merkst, jetzt ist es da.
Ziegler: Ich finde, das ist auch eine großartige Beschreibung für die Mathematik.
Gedeck: (Lacht) Ist das bei Ihnen auch so?
Ziegler: Ja. Und es gibt noch einen Aspekt, der bei uns ähnlich sein dürfte – die Bedeutung von Erfahrung. Man fängt mit 50 Jahren auf einer anderen Ebene an als mit 20. Ich habe heute einen ganz anderen Blick auf Probleme, für deren Lösung und den Weg dahin. Es ist ein anderes, effektiveres Arbeiten, selbst wenn man nicht mehr die gleiche Konzentrationsfähigkeit hat wie früher. Und es kommt auch etwas anderes
dabei heraus.
Gedeck: Richtig. Das ist das große Glück.
Ziegler: Deswegen ist es auch nicht so, dass man 50 Jahre lang dasselbe macht, immer gleich agiert. Ich habe das Bewusstsein, dass ich eine einzigartige, immer weiter wachsende Sammlung von Erfahrungen habe, auf die ich zugreifen kann. Und habe damit auch einzigartige Sichtweisen auf Dinge, über die ich kommuniziere.
Martina Gedeck absolvierte ihre Schauspielausbildung an der Universität der Künste Berlin. Ihr Theaterdebüt gab sie am Frankfurter Theater am Turm, es folgten Engagements in Hamburg, Basel und Berlin. Gleichzeitig startete sie ihre Karriere als Filmschauspielerin. Für ihre erste Hauptrolle im Fernsehdrama „Die Hölleisengretl“ wurde sie mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet. Seither bekam sie nahezu alle bedeutenden Filmpreise, vom Grimme-Preis bis zum Stern auf dem Boulevard der Stars. International bekannt wurde sie vor allem mit „Bella Martha“, dem Oscar-prämierten Film „Das Leben der Anderen“ und dem Oscar-nominierten Film „Der Baader Meinhof Komplex“.
Günter M. Ziegler ist Professor für Mathematik und Präsident der Freien Universität Berlin. Dort forscht und lehrt er über Aspekte der Diskreten Geometrie und Fragen der Algebraischen Topologie. Dafür wurde er 2001 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ausgezeichnet. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt Ziegler für sein Engagement für ein vielfältiges und lebendiges Bild der Mathematik in der Öffentlichkeit 2008 den renommierten, von der DFG ausgeschriebenen „Communicator-Preis – Wissenschaftspreis des Stifterverbandes“. Er ist Kuratoriumsmitglied der Klaus Tschira Stiftung und Autor mehrerer allgemein verständlicher Bücher.
Die Fragen stellte Annette Zerpner