Geowissenschaften Feuerberge auf dem Meeresgrund
Die meisten Vulkane befinden sich im Meer und sind deshalb nur schwer zu untersuchen. Wie können wir dennoch die Entwicklungsgeschichte und das Gefährdungspotenzial dieser Feuerberge erforschen? Eine Reise nach Santorini
Weiße Häuser, blaue Dächer und ein atemberaubender Blick auf die Ägäis: Die Insel Santorini, nördlich von Kreta gelegen, ist für viele ein Traumreiseziel. Jedes Jahr zieht es zwei Millionen Tourist:innen auf das Archipel. Was nur wenige wissen: Santorini war Schauplatz eine der größten Naturkatastrophen in historischer Zeit.
Vor etwa 3600 Jahren, in der späten Bronzezeit, brach dort auf dem Meeresgrund eine Vulkaninsel aus. Gigantische Mengen Asche verdunkelten den griechischen Himmel, glutheiße Ströme aus Asche und Gas strömten über die Insel und ins Meer. Tsunamis überfluteten die Küsten der Ägäis und erreichten die Küste Kretas, wo sich Knossos befand – das Zentrum der minoischen Kultur. Sie wurde derart geschwächt, dass sie nur wenige Jahrzehnte später zugrunde ging.
Die Folgen eines solchen Vulkanausbruchs wären in dem heute dicht besiedelten Mittelmeerraum kaum auszudenken. Doch wie groß ist die Gefahr, die von Santorini ausgeht? Und gibt es unter der Meeresoberfläche womöglich noch weitere Vulkane? Das sind Fragen, die uns im Folgenden beschäftigen.
Trotz ihrer teils verheerenden Ausbrüche ist das Gefährdungspotenzial mariner Vulkane weltweit wenig erforscht. Der überraschende Ausbruch des pazifischen Vulkans Hunga Tonga-Hunga Ha’apai im Frühjahr 2022, dessen Schockwellen mehrfach die Erde umkreisten, hat deutlich gemacht, wie unvorbereitet die Menschheit auf Eruptionen dieser Art ist. Da verlässliche Vorhersagen von Vulkanausbrüchen auch in ferner Zukunft nicht möglich sein werden, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir die Geschichte der Vulkane am Meeresboden besser verstehen, um mögliche Auslöser und Auswirkungen besser zu erfassen. Und das ist aufgrund ihrer Lage natürlich schwierig.
Zusammen mit Kolleg:innen vom GEOMAR in Kiel und von der Universität Athen gingen wir 2019 an Bord des Forschungsschiffes „FS POSEIDON“. Und zwar, um seismische Messungen entlang des Vulkanfeldes von Santorini durchzuführen. Seismik ähnelt dem Prinzip medizinischer Ultraschalluntersuchungen. In regelmäßigen Abständen schickten wir Schallimpulse in den Untergrund und maßen die Laufzeiten von Reflexionen an Grenzflächen der verschiedenen Erdschichten. Auf diese Weise erstellten wir ein strukturelles Abbild des Untergrunds und erkannten Strukturen von mehreren Dutzenden bis Hunderten von Metern Größe. Es erlaubte uns, gewissermaßen in Vulkane hineinzuschauen und so deren Aufbau zu erforschen.
Nach einem Monat kontinuierlicher Messungen kehrten wir mit einem großen Datenschatz zurück. Im Rahmen unserer Arbeit erstellten wir zusammen mit Daten früherer Expeditionen der Universität Hamburg Querschnittsbilder des Meeresbodens und der darunterliegenden geologischen Schichten. Gemeinsam mit einem internationalen Team konnten wir die ereignisreiche Entstehungsgeschichte des Vulkanfeldes von Santorini rekonstruieren – und machten eine Reihe überraschender Entdeckungen.
So entdeckten wir unter dem Meeresboden um Santorini einige bisher unbekannte Vulkane. Ähnlich wie bei den Spitzen von Eisbergen ragt auch bei untermeerischen Vulkanen oft nur ein kleiner Teil über den Meeresboden hinaus. Liegt die Entstehung eines Vulkans schon lange zurück, kann er längst vollständig unter Sedimenten verborgen sein. Mit unseren seismischen Daten konnten wir jedoch einige davon sichtbar machen. Den größten dieser Feuerberge nannten wir zu Ehren unseres Forschungsschiffes „Poseidon Vulkan“. Er war vor etwa einer Million Jahren aktiv und hat große Mengen Bimsstein und Asche ausgestoßen. Im Fall des eingangs erwähnten Santorini konnten wir nachweisen, dass er vor über zwei Millionen Jahren aktiv wurde. Aus einzelnen, eher kleinen vulkanischen Zentren reifte schließlich vor rund 300.000 Jahren ein Vulkan heran, der heute das Santorini-Archipel bildet. Seitdem konzentriert sich hier die vulkanische Aktivität und wurde im Laufe der Zeit immer explosiver. Heute wissen wir von über zweihundert Ausbrüchen, wobei der letzte sich im Jahr 1950 ereignete.
Überdies konnten wir zeigen, dass Unterwasservulkane auch ausbrechen können, wenn Teile ihres Kraters wegbrechen und es infolgedessen zu einem plötzlichen Druckabfall in der Magmakammer unter dem Vulkan kommt. Unsere Daten zeigen, dass solche Katastrophenkaskaden in der Vergangenheit des Vulkanfeldes von Santorini eine zentrale Rolle gespielt haben. Und: Unterwasservulkane sind nicht nur während einer Explosion gefährlich. Denn wenn ihre steilen Hänge ins Rutschen geraten, kann das gefährliche Tsunamis auslösen. In den einige Dutzende Kilometer weiten und mehrere Hundert Meter tiefen Senken im Meeresboden um Santorini identifizierten wir mehrere solcher Rutschungen, in denen bis zu hundert Kubikkilometer Sedimente abgingen.
Vor allem konnten wir den räumlichen und zeitlichen Zusammenhang von tektonischen Bewegungen in der Erdkruste und den Ausbrüchen von Vulkanen analysieren. Die Erdkruste in der südlichen Ägäis wird durch das Abtauchen der Afrikanischen Platte gedehnt. Dies äußert sich in großen Verwerfungen, die oberhalb der Wasseroberfläche als steile Klippen der ägäischen Inseln sichtbar sind, sich aber unter Wasser fortsetzen, wo wir sie in unseren seismischen Profilen sehen können. Unsere Analyse zeigt, dass es Phasen gab, in denen sich große Verwerfungen von mehreren Hundert Metern in einem (geologisch gesehen) kurzen Zeitraum gebildet haben. Diese „tektonischen Pulse“ dauern vermutlich wenige Zehntausende Jahre und aktivierten den Vulkanismus von Santorini und seiner Nachbarn. Tektonische Bewegungen haben also einen direkten Einfluss auf das Verhalten der Vulkane der Ägäis.
Vulkanausbrüche, tektonische Verwerfungen und Hangrutschungen haben sich in der Vergangenheit Santorinis als komplexe Katastrophenkaskaden gegenseitig ausgelöst – das zeigen unsere Ergebnisse deutlich. Doch wie lange dauern diese Prozesse?
Wie alt sind die vulkanischen Schichten im Untergrund? Um wie viele Meter senkt sich der Meeresboden während tektonischer Pulse? Um dies herauszufinden, war Anfang 2023 das internationale Forschungsbohrschiff „JOIDES Resolution“ im Rahmen einer Expedition des International Ocean Discovery Program (IODP) in der Ägäis. Die aus den Bohrungen gewonnenen Daten werden uns in Zukunft helfen, diese Fragen zu beantworten.
Wir haben bereits weitere Ausfahrten geplant, um die seismischen Messungen im Hellenischen Inselbogen und in Indonesien fortzusetzen. Auf diese Weise hoffen wir, in Zukunft genauere Daten über den Zusammenhang von Eruptionen, Katastrophenkaskaden und tektonischen Schwächezonen zu erhalten, die dann die Überwachung und die Frühwarnsysteme von marinen Vulkanen unterstützen. Unsere Daten zeigen zwar nicht, wann genau die nächste Naturkatastrophe stattfinden wird. Aber wir können Zonen identifizieren, die besonders gefährdet sind und die mittels gezielter Überwachungssysteme geschützt werden sollten. Dies ist dringend notwendig, damit der nächste Ausbruch nicht zur Katastrophe wird und Menschen rechtzeitig vor den schlafenden Feuerbergen am Meeresgrund gewarnt werden können.
Zum Thema
Das Jahr ohne Sommer
Als der Tambora explodierte, veränderte er die Welt
Von den furchtbaren Folgen des Santorini-Ausbruchs zeugen heute nur noch die minoischen Ruinen von Akrotiri. Wie viele Menschen damals starben, ist ungewiss. Ein Ausbruch ähnlicher Dimension erschütterte die Welt aber auch im Jahr 1815. Und dessen Folgen sind gut dokumentiert.
Als der indonesische Tambora explodierte, flogen ebenfalls Dutzende Kubikkilometer Asche und Gestein in die Luft. 1816 folgte das „Jahr ohne Sommer“ – in Deutschland auch das „Jahr Achtzehnhundertunderfroren“ genannt.
Der Ausbruch des Tambora forderte im direkten Umfeld wohl über 70.000 Menschenleben. Doch die feine Asche und die Schwefelgase zogen bald um den ganzen Globus. Die Temperaturen sanken weltweit um rund ein Grad Celsius. Auf der Nordhalbkugel fiel der Sommer aus, vielerorts – auch in Deutschland – vernichtete Julifrost die Ernten. Allein in Europa verhungerten vermutlich weitere 200.000 Menschen. Die Cholera wurde zur Pandemie. Wie viele Menschen am Ende starben, weiß niemand. In Europa begann die erste große Auswanderungswelle nach Nordamerika, in den USA machten sich die großen Siedlertrecks auf den Weg nach Westen.
Doch die Katastrophe hatte auch ihre hellen Seiten. Als Mary Shelley 1816 wegen des üblen Wetters ihre Schweizer Ferienunterkunft kaum verlassen konnte, schrieb sie ihren Roman „Frankenstein“. Die aufgrund der stauberfüllten Atmosphäre besonders prächtigen Sonnenuntergänge jener Zeit inspirierten William Turner, John Constable, Caspar David Friedrich und andere zu ihren berühmten Gemälden. Sogar für das erste Fahrrad soll der Tambora verantwortlich gewesen sein. Denn damals waren so viele Pferde verhungert, dass Karl von Drais angeblich daraufhin die nach ihm benannte Draisine erfand. — J. Schüring