Bürger wissen!
Die gute Nachricht: Immer mehr Menschen engagieren sich als Laienforscher. Die schlechte: Oft sind sie dabei nur billige Datensammler. Eine verpasste Chance im Dialog mit der Öffentlichkeit?
Wer wissenschaftlich arbeiten will, kann das tun. Sofort. Ein paar Klicks auf der Website von „Bürger schaffen Wissen“, und schon ist man aktiver Teil eines Forschungsprojektes. Wer auf dieser Website unterwegs ist, interessiert sich für wissenschaftliche Fragestellungen – ist aber kein Profi, sondern Laie.
Das Angebot, sich aktiv an Forschungsprojekten zu beteiligen, ist riesig und hat sich insbesondere in den letzten Jahren geradezu explosiv entwickelt. Auf jener Website hat man die Wahl unter mehr als hundert Projekten. Da sucht ein Marburger Forschungsteam Leute, die in Gewässern Sedimentproben nehmen und diese im Labor so aufbereiten, dass sich die darin enthaltenen winzigen Plastikpartikel nachweisen lassen. In Berlin sind Bürgerinnen und Bürger aufgerufen, Nachtsichtkameras in ihren Höfen und Gärten aufzustellen, um herauszufinden, wo sich wie viele Dachse, Füchse oder Waschbären herumtreiben. In der Sächsischen Schweiz sollen Orte und Landschaften auf historischen Bildern nachfotografiert und verglichen werden, weil sich so negative oder positive Veränderungen im Landschaftsbild nachvollziehen lassen. Auch Kinder können mitmachen – etwa wenn es darum geht, Ampelphasen zu fotografieren, um eine App für sehbehinderte Menschen zu optimieren.
„Citizen Science“ ist kein neues Phänomen. Tatsächlich lag die Wissenschaft vor der Gründung der Universitäten und Forschungseinrichtungen und ihrer damit einhergehenden Institutionalisierung und Spezialisierung immer in der Hand von Laien. Sammler von Mineralen und Fossilien, Insekten oder Blüten, Hobbyastronomen und Vogelkundler, die sich ihre Kenntnisse rein autodidaktisch aneignen, gibt es bis heute. Viele von ihnen erarbeiten sich in ihren Wissensgebieten Kompetenzen, die selbst von Profiforscherinnen und -forschern nicht erreicht werden. Manches Tier, manch ferner Stern trägt den Namen einer Entdeckerin, die nie studierte.
Ihren Auftrieb verdanken die Bürgerwissenschaften vor allem der Digitalisierung. Die 2001 gegründete Wikipedia etwa – ein Lehrbuchbeispiel für die Untrennbarkeit von Profi- und Laienbeitrag – wäre ohne das Internet nicht möglich. Die Verbreitung der mobilen Telefone führte zudem dazu, dass fast jeder ständig mit einer simplen App Daten sammeln und übermitteln kann. Mittlerweile haben über 80 Prozent der Deutschen ein Smartphone, bei Kindern im Alter von acht bis neun Jahren ist es jedes dritte.
Die Folge: Das Wesen der Laienforschung hat sich grundlegend verändert. Denn dieser Wandel bedeutet einerseits, dass die Teilhabe an wissenschaftlicher Arbeit einfacher wird. Andererseits ist dieser Zugang häufig weitaus oberflächlicher. Denn in vielen dieser Projekte geht es lediglich darum, in kurzer Zeit viele Daten zu sammeln. Was die Forschenden damit machen, erfahren die Teilnehmenden oft nicht. Der eigene Erkenntnisgewinn ist minimal.
Der Wissenschaftstheoretiker Peter Finke, der an der Universität Bielefeld lehrte, bezeichnet diese Form der Mitarbeit „Citizen Science light“ – und unterscheidet sie von „Citizen Science proper“: von Projekten, die zumindest teilweise aus der Gesellschaft heraus initiiert werden. In diesen Fällen entwickelt sich zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein stabiles und nachhaltiges Engagement, das im besten Fall über die unmittelbar Beteiligten in die Gesellschaft hineinreicht.
So engagieren sich viele Hobbybiologen, -historiker, -heimatkundler oder -astronomen – um nur einige wenige zu nennen – in Vereinen und sorgen ihrerseits im Rahmen von Kursen, Vorträgen oder Exkursionen für eine Verbreitung ihres Wissens in die interessierte Bevölkerung. Auch Bürgerinitiativen, die sich für eine bessere Stadtplanung oder den Schutz der Umwelt bemühen, gehören dazu.
Dass solche Projekte über den eigentlichen Kreis der Initiatoren hinaus wirken und Menschen dazu bringen, über ihr Verhalten nachzudenken und ihre Gewohnheiten zu verändern, zeigt beispielhaft „Repara/kul/tur“. In dem Verbundprojekt mit Partnern aus Forschung und Praxis geht es ums Überdenken unseres Konsumverhaltens: In Repair-Cafés, offenen Werkstätten oder Veranstaltungen rund um die „Kultur des Reparierens“ sollen umweltfreundliche Methoden im Umgang mit Gebrauchsgegenständen erarbeitet und publik gemacht werden. Doch die Cafés bieten viel mehr: Sie entwickeln sich rasch zu Orten der Begegnung. Sie dienen der sozialen Interaktion, Integration, Inklusion und vieles mehr. Hier treffen sich Menschen, die sich sonst nie getroffen hätten.
Eine Bewertung will Peter Finke mit seiner Unterscheidung der beiden Formen „Citizen Science proper“ und „Citizen Science light“ zu Recht nicht geben. Schließlich kann jeder selber entscheiden, ob er bei einem Projekt mitmachen will oder nicht. Gleichwohl stehen die Begriffe aber für das Maß an Teilhabe und Erkenntnisgewinn. Und beides ist, wie gesagt, im Fall der „light“-Version oft minimal.
Für viele Forschende ist aber gerade „Citizen Science light“ besonders attraktiv, weil sie dank des Internets mit den Methoden des Crowdsourcings Aufgaben bewerkstelligen können, die zuvor jenseits aller technischen und finanziellen Möglichkeiten lagen. Weil viele Freiwillige in kurzer Zeit schaffen, woran ein kleines Forschungsteam von vornherein scheitern würde, werden unmöglich scheinende Fragestellungen möglich.
Das klingt gut, und wenn sich genügend Freiwillige finden, ist daran ja auch nichts auszusetzen, oder? „Doch“, meint Katrin Vohland, „wenn es nur um die Datenbeschaffung geht, müssen wir uns fragen, warum wir die Leute nicht dafür bezahlen.“ Die Biologin arbeitet als Expertin für Citizen Science am Berliner Museum für Naturkunde. Sie gehört zum Leitungsteam der Plattform „Bürger schaffen Wissen“ und hat die European Citizen Science Association (ECSA) mit aufgebaut. Die „Demokratisierung der Wissenschaft“, ein Kernziel von Citizen Science, werde auch in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Angesichts von Stellenstreichungen in Universitäten, Forschungseinrichtungen und Museen müsse man aber darauf achten, dass die Bürgerbeteiligung nicht als Teil eines „neoliberalen Trends zum Outsourcing“ verkommt.
Denn das Ziel der Bürgerwissenschaften ist ein anderes: Sie sind eines der Instrumente, mit der sich die Wissenschaft inmitten der Gesellschaft verankern kann und muss. Sie ist ja selbst Teil davon und bestimmt in großem Maße die Geschicke aller. Es geht hier somit nicht nur um das alte Argument der Bringschuld der Forscherinnen und Forscher den Steuerzahlern gegenüber. Vielmehr geht es um das fundamentale Verständnis wissenschaftlicher Arbeit. Denn es sichert in Zeiten von wachsendem Populismus und Fake News das eigene Urteilsvermögen. Die Einbeziehung von Laien in die wissenschaftlichen Entscheidungsprozesse kann das sicherstellen. Es müsste das ureigene Interesse der Wissenschaft sein.
Tatsächlich gibt es bei bürgerwissenschaftlichen Projekten eine Reihe entsprechender Empfehlungen – etwa von Seiten der ECSA –, verbindliche Richtlinien für die Durchführung vor Ort fehlen aber. „Vielen Forscherinnen und Forschern fehlt das Bewusstsein oder die Zeit, sich mit dem Mehrwert von Citizen Science für die Beteiligten zu befassen“, sagt Vohland. Dabei hat sie durchaus Verständnis für deren Lage. Schließlich liege ein Großteil der Projekte heute in der Hand von Kollegen mit befristeten Arbeitsverträgen, die sich ständig Gedanken um die eigene Zukunft machen müssen. „Die stehen unter großem Druck“, sagt Vohland, „denen können wir keinen Vorwurf machen, wenn sie bei Citizen Science vor allem an die effektive Sammlung großer Datenmengen denken.“
Dabei sieht Katrin Vohland durchaus Zeichen für einen Kulturwandel. Das stark steigende Interesse von Bürgerinnen und Bürgern, an Citizen-Science-Projekten teilzunehmen, zeuge von einem gesellschaftlichen Momentum. Und das gelte es, zu nutzen. Sie fordert daher, dass der Wissenstransfer von Forschung in die Gesellschaft und umgekehrt rasch zu einem integralen Bestandteil des Studiums wird: „Studierende müssen von Anfang an lernen, dass sie ihre Arbeit öffentlich vermitteln müssen – und wie sie das am besten tun.“ Das gelte für Wissenschaftskommunikation im Allgemeinen genauso wie für das Engagement im Rahmen von Citizen-Science-Projekten.
Um den Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu verbessern, braucht es in den Forschungsinstitutionen dann aber auch entsprechende Fachleute, die die Forschenden im Haus beraten und gemeinsam mit ihnen Citizen-Science-Projekte planen, umsetzen und nach Abschluss evaluieren. All das kostet natürlich Geld, das oft gar nicht oder nicht systematisch zur Verfügung steht.
Es gibt Beispiele, die zeigen, wie es funktionieren kann. In Münster etwa. Dort besteht seit 1985 an der Universität die Arbeitsstelle Forschungstransfer (AFO) – ursprünglich gegründet, um die Hochschule auf Messen zu präsentieren. Bald förderte sie Patente aus dem eigenen Haus und beriet bei der Gründung von Spin-offs. Seit einigen Jahren gehört auch Citizen Science zu ihrem Kerngeschäft. „Für die Universität sind die Bürgerwissenschaften auch ein strategisches Thema“, erzählt Wilhelm Bauhus, der das 20-köpfige Team der AFO leitet. Ihm stehen neben einer Sockelfinanzierung auch Sachmittel zur Verfügung – sowie eingeworbene Drittmittel.
Den Erfolg verdankt die AFO auch der regionalen Verankerung ihrer Projekte im Münsterland. „Es gibt hier Leute mit einzigartigem, nirgends niedergeschriebenem Wissen“, sagt Bauhus und erzählt von dem Projekt „Fremder Nachbar – Leben im Kalten Krieg im Münsterland“, bei dem sich Menschen mit den Zeugnissen aus der Zeit des Kalten Krieges auseinandersetzen. Es handelt sich um einst geheime Anlagen, die heute teils längst verschwunden sind und um die sich seit jeher viele Gerüchte ranken. Für Historiker ist die Aufarbeitung daher ungemein schwierig. „Doch jetzt bringen wir Menschen, die damals in einem Munitionslager der Bundeswehr arbeiteten, mit jenen zusammen, die vor dem Zaun dagegen demonstrierten – das bringt uns völlig neue Erkenntnisse.“
Gerade wegen dieses regionalen Bezuges – egal ob im geistes- oder naturwissenschaftlichen Bereich – wecken die grundsätzlich öffentlich präsentierten Ergebnisse regelmäßig das Interesse der Medien. „Diese Berichterstattung ist für alle Beteiligten – Forschende wie Laien – ein wichtiger Teil der Anerkennung“, erzählt Bauhus. „Am Ende stärken wir so auch das Renommee der ganzen Universität, was uns wiederum für Sponsoren attraktiv macht.“ Ein Kreislauf, der sich von selbst erhält – und von dem langfristig alle profitieren.
Joachim Schüring ist Geologe, Wissenschaftsjournalist und Redaktionsleiter dieses Magazins