Interview „Als Kind alles ausprobiert“
Sie leitet einen Kindergarten, er ein Max-Planck-Institut. Martina Grundmann-Ecker und Stefan Hell sprechen über das urmenschliche Interesse an der Natur, den Zweifel an Dogmen – und eine Katze auf dem Balkon
Frau Grundmann-Ecker, in Ihrem Kindergarten gibt es eine „Forscherstation“. Hier können die Kinder spielerisch Naturphänomenen auf den Grund gehen. Mit welchem Experiment können Sie uns begeistern?
Grundmann-Ecker (lacht): Kinder beobachten die Welt ja noch ganz anders als wir. Für sie ist vieles neu, was uns bekannt ist. Da lassen sie Spielzeugautos eine Rampe heruntersausen und schauen, wie weit sie fliegen. Und testen, was passiert, wenn sie die Rampe steiler stellen. Solche Experimente funktionieren immer.
Hell: Da bin ich absolut Ihrer Meinung, mit meinen Kindern mache ich ganz ähnliche Experimente. Letztens haben wir zum Beispiel kleine Modellflugzeuge gekauft und hier und da ein bisschen an der Aerodynamik gewerkelt. Einige davon hängen bis heute in den Bäumen der Göttinger Schillerwiese. Ich muss zugeben: Die sind nicht alle von meinen Kindern da hinein gesteuert worden …
Welche Experimente funktionieren denn im frühen Kindesalter am besten?
Grundmann-Ecker: Die Kleinen lieben alles, was mit Wasser zu tun hat. Mit einem Schlauch am Wasserhahn, in der Pfütze rummatschen.
Hell: Das erinnert mich an eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen: Ich stand auf einer Brücke und beobachtete, wie sich der Bach an den Steinen staute und aufschäumte. Ich habe ihn gestaut und beobachtet, wie sich das Wasser einen neuen Weg sucht. Das faszinierte mich gewaltig. So wie die meisten Kinder.
Haben Ihre Eltern ihr Interesse an der Natur gefördert?
Hell: Sie haben meine Ausbildung immer unterstützt, ohne Frage. Aber sie hatten nicht die Zeit und die Möglichkeiten, mich in dieser Hinsicht speziell zu fördern. Dass sie mir eine Lupe oder ein Mikroskop geschenkt hätten und damit mein weiterer Weg vorgezeichnet gewesen wäre – das ist Quatsch, so war es nicht.
Frau Grundmann-Ecker, wie reagieren die Eltern auf die intensive Beschäftigung mit den Naturwissenschaften?
Grundmann-Ecker: Sie nehmen das nicht als „Physik“ oder als „Biologie“ wahr. Sie bringen ihre Kinder zu uns, und wir ermöglichen ihnen zu forschen, ohne dass das einen naturwissenschaftlichen Namen hat. Sie kriegen die Zeit, den Raum, die Materialien. Es geht einfach darum, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen – dieser Drang ist in den Kindern drin, und wir möchten sie darin bestärken. Wir hoffen, dass wir damit ein Samenkorn pflanzen, das später einmal aufgeht. Gab es bei Ihnen auch so ein Samenkorn, Herr Hell?
Hell: Ich habe als Kind immer alles Mögliche ausprobiert, aber das waren keine ausgefeilten Experimente. So war ich als Fünfjähriger fasziniert davon, wie unsere Katze den Baum hochkletterte. Sie krallte sich an der Rinde fest – und zack-zack-zack war sie oben, ohne runterzufallen. Ich habe sie dann auf das Metallgeländer unserer Terasse gestellt, um zu sehen: Kann sie sich auch ohne Festkrallen halten? Oder fällt sie runter?
Und, ist es gutgegangen?
Hell: Ja, sie schaffte das, und je öfter ich sie daraufsetzte, desto besser wurde sie. Und ja: Ich stand immer in der Nähe und fing sie, wenn es nicht klappte, auf.
Grundmann-Ecker: Ich beobachte immer wieder, wie unterschiedlich die Kinder sind: Manche müssen wir behutsam an das Tun heranführen, andere leben ihre Experimentierfreude ganz von selbst aus – so wie Sie.
In Ihrem Kindergarten machen Sie schon seit 2008 solche Experimente. Die Kinder von damals sind heute längst in der Schule. Beobachten Sie, ob das Samenkorn aufgeht?
Grundmann-Ecker: Tatsächlich gibt es Kinder, die in den ersten Jahren nach dem Unterricht immer noch bei uns im Kindergarten vorbeikommen und fragen, ob sie nicht dieses oder jenes Experiment bei uns ausprobieren könnten. Wichtig ist aber, dass die Schule das Thema weiterträgt. Ich halte gerade das für so wichtig, weil die Kinder nach ihren ersten Erfolgserlebnissen im Kindergarten auch später dranbleiben.
Herr Hell, Sie haben den Nobelpreis erhalten. Können Sie Schulkindern erklären wofür?
Hell: Grundlegende Dinge kann man meistens auch einfach erklären. Ich fand heraus, dass man mit einem Lichtmikroskop Details scharf sehen kann, die kleiner sind als die Wellenlänge des Lichts. Diese Schärfegrenze lag bei 200 Millionstel Millimetern. Alles was dichter beieinander lag – zum Beispiel mit Farbstoffmolekülen markierte filigrane Strukturen von Zellen – ließ sich im Lichtmikroskop dann nicht voneinander trennen. Meine Lösung war, die Farbstoffmoleküle nacheinander zum Leuchten zu bringen, indem ich sie unter dem Mikroskop quasi ein- und ausschalte. Ist ein Detail dunkel, kann es nicht das Signal des anderen stören und umgekehrt. Dieses Hell-Dunkel- oder An-Aus-Prinzip – das kann man auch schon Viert- oder Fünftklässlern vermitteln.
Seit wann beschäftigen Sie sich mit dieser Frage?
Hell: Ich studierte Physik, weil ich etwas Grundlegendes verstehen wollte – so wie ich als Junge diesem Wasserlauf nachgespürt hatte. In meiner Doktorarbeit entschied ich mich wegen der angeblich besseren Jobaussichten für ein angewandtes Thema – und so begann ich, unter dem Mikroskop Computerchips zu vermessen. Doch bald merkte ich: Mikroskopie an sich ist langweilig; Physik aus dem 19. Jahrhundert. Entweder ich hänge sie an den Nagel oder ich suche mir ein noch ungelöstes interessantes Problem. Die Grenze des Sichtbaren zu brechen – das war cool, weil ja im Lehrbuch steht, dass es nicht ginge. Auch das hat was mit meiner Kindheit zu tun.
Wieso?
Hell: Ich bin ja im Kommunismus groß geworden und merkte schon als Jugendlicher: Nicht alles, was vehement behauptet wird, hält einer Überprüfung stand. Und das, was gebetsmühlenartig heruntergeratscht wird, ist erst recht verdächtig. Und bei der Auflösungsgrenze des Lichtmikroskops hatte ich einen Verdacht.
Grundmann-Ecker: Woher kamen denn Ihre Zweifel? Sie galten mit dieser Idee ja lange als Exot …
Hell: … oder Spinner. Ein landläufiges Zerrbild ist ja, unter Naturwissenschaftlern gebe es viele Spinner. Ich glaube das nicht: Die Natur holt jeden Spinner gnadenlos auf den Boden der Tatsachen zurück. Aber manchmal träumt auch die ganze Welt bis auf ein paar wenige, die die Dinge korrekt einschätzen. Überlegen Sie mal: Wenn wir heute auf die letzten fünfzig Jahre zurückblicken, haben wir einen ganz anderen Blick auf den Lauf der Dinge, als es die Leute damals hatten. Also kann man davon ausgehen, dass die Menschen in fünfzig Jahren viele Dinge anders sehen werden, als wir heute. Das sollte einem zu denken geben. Als Wissenschaftler sollte man sich daher immer fragen, ob etwas, was heute gültig scheint, auch in einigen Jahrzehnten noch gültig sein wird. Wenn man begründete Zweifel daran hat, sollte man diesen Zweifeln nachgehen.
Dieser Gang muss aber frustrierend gewesen sein: Etliche Bewerbungen um Forschungsgelder wurden abgelehnt, erst in Finnland fanden Sie dann eine Stelle an der Universität. Was haben Sie in dieser Phase über Kommunikation gelernt?
Hell: Mir wurde klar, wie sehr die menschliche Wahrnehmung durch Interessen geleitet ist. Wenn ich hungrig durch die Straße gehe, sehe ich jede Dönerbude. Die Physik hatte damals kein großes Interesse für die Lichtmikroskopie, weil man dachte, dass da nichts mehr zu holen wäre. Und bei mir war die ganze Wahrnehmung darauf konzentriert, eine Lösung für dieses Auflösungsproblem zu finden. Dabei hätte ich auch falsch liegen können. Um jetzt im Bild zu bleiben: Wenn ich in einem Wohnviertel unterwegs bin, stoße ich womöglich nie auf einen Dönerladen. Aber mein Blick für das „Stadtviertel“ sagte mir, dass es kein Wohnviertel ist. Und mit Hunger im Bauch wird man auch fündig.
Welche Rolle spielt bei Ihnen das Kommunikative, Frau Grundmann-Ecker?
Grundmann-Ecker: Wir haben gerade einen Jungen aus Nigeria bei uns. Er ist seit drei Monaten in Deutschland, spricht kaum Deutsch und hat deshalb weniger Kontakte zu den anderen Kindern in seiner Gruppe. Er kann sich nicht ausdrücken, aber ist trotzdem mit Feuereifer dabei.
Hell: Hilft ihm dieser Eifer, in die Gruppe reinzukommen?
Grundmann-Ecker: Ja, unbedingt. Denn wenn sich mehrere Kinder für die gleichen Experimente interessieren, arbeiten sie völlig unbefangen zusammen. Und natürlich geht es dabei nicht ohne Kommunikation. Jedes unserer Experimente ist ja auch Teamwork – und fördert deshalb nicht nur das Verständnis von Naturphänomenen, sondern ganz konkret auch das Sprachvermögen und die Kommunikation untereinander.
Herr Hell, Sie haben zwei Firmen gegründet, die sich mit der Entwicklung von High-Tech-Mikroskopen beschäftigen. Sprechen Sie anders über physikalische Probleme, wenn ein Kunde Sie verstehen muss?
Hell: Wenn man Dinge erkärt, soll man sie so weit vereinfachen, dass Details nicht das Kernprinzip überdecken. Wichtige Details von heute sind vielleicht morgen nicht mehr wichtig, weil die Entwicklung weitergeht – aber das Kernprinzip bleibt. Wissen Sie, was mir im Lauf der Zeit klar wurde?
Na?
Hell: Wenn man ein Phänomen verstanden hat, kann man es allen erklären. Wenn jemand sein Forschungsgebiet nicht auf das Einfachste herunterbrechen kann, ist das so gut wie immer ein Beleg dafür, dass er es selbst (noch) nicht verstanden hat.
Was war für Sie das größte Erfolgserlebnis?
Hell: Ich habe Physik studiert, weil ich fasziniert war von dem, was die „Welt im Innersten zusammenhält“, wie es bei Goethe heißt. Es sind sehr simple Prinzipien. Diese Erkenntnis war für mich unwahrscheinlich befriedigend – und die Erkenntnis, dass manche praktischen Grenzen in Wahrheit gar keine sind.
Grundmann-Ecker: Wir gehen mit unseren Kindern oft in den Wald – und erleben dabei wirklich Erstaunliches. Kinder, die wenig sprechen – weil sie schüchtern sind oder die Sprache nicht beherrschen – reden dort auf einmal viel mehr und knüpfen viel ungezwungener neue Kontakte. Nirgendwo sonst können sie dieses urmenschliche Interesse an allem Neuen ausleben. Diese Erfahrungen prägen sie ein ganzes Leben lang.
Die Erzieherin Martina Grundmann-Ecker (54) leitet den evangelischen Kindergarten in Waldangelloch in der Nähe von Heidelberg. Seit 2008 begleitet sie Kinder dabei, Naturphänomene zu beobachten und zu erforschen. Sie und ihr Team absolvieren dazu regelmäßig Fortbildungen an der Forscherstation, dem Klaus-Tschira-Kompetenzzentrum für frühe naturwissenschaftliche Bildung, das von der Klaus Tschira Stiftung gegründet wurde und von ihr getragen wird.
www.forscherstation.info
Der Physiker Stefan Hell (55) wurde 2014 mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet. Mit einer Entdeckung revolutionierte er die Mikroskopie: Er überwand die Auflösungsgrenze, die mehr als 100 Jahre lang als unverrückbar galt – dank seines Verfahrens können Wissenschaftler unter dem Lichtmikroskop beispielsweise Vorgänge in lebenden Zellen auf der sogenannten Nanoskala beobachten. Hell, der als Kind in einer deutschen Minderheit in Rumänien aufwuchs, ist Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen und am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung in Heidelberg.
Die Fragen stellte Kilian Kirchgeßner