Zellteilung
©Anna-Lena Keller

Biologie Klein, aber oho

Wenige Milliliter Blut ­genügen, um „Mini-Brust­gewebe“ zu erzeugen, das Milch­proteine produziert. Als Schlüssel­werkzeug in der Brust­krebs­forschung hilft es, Krankheits­mechanismen zu ­verstehen. Doch wie entstehen solche Miniatur­organe?

von Dr. Anna-Lena Keller

Draußen dämmert es bereits, doch die Neonlampen des Labors erleuchten den Raum taghell. Sie trägt einen weißen Kittel, hat die Haare ­zu­sammen­gebunden, die Labor­hand­schuhe über­­gestreift und nimmt die Blut­probe behutsam ­entgegen. Höchste Sorgfalt und Sauberkeit sind jetzt geboten. Für ihr Vorhaben genügen fünf Milliliter. Ihre Mission: das Heran­züchten von „Mini-Organen“, die in ­Aufbau und Funktion ihren natürlichen Pendants verblüffend ähnlich sind.

Diese Szene könnte einem Science-Fiction-Roman entstammen, ist aber tatsächlich der faszinierende Forschungs­alltag vieler Stamm­zell­biolog:innen. Um aus gewöhnlichen Körper­zellen wie Blut-, Haut- oder Haar­wurzel­zellen Mini-­Organe her­zu­stellen, müssen diese Körper­zellen in einem ersten Schritt in den „pluri­potenten Stamm­zell­status“ gezwungen werden.

Pluripotente Stammzellen sind wahre Alles­könner, die sich durch zwei bemerkens­werte und einzigartige Eigenschaften auszeichnen: Zum einen sind sie in der Lage, identische Kopien ihrer selbst zu erzeugen, und zum anderen besitzen sie das Potenzial zur Differenzierung. Das heißt, sie können sich in alle spezialisierten Zelltypen des Körpers verwandeln, da sie noch nicht auf einen Gewebetyp festgelegt sind.

Forschungsalltag von Anna-Lena Keller: Im ­Labor arbeitet die Biologin mit ­Stammzellen, die sich in alle spezialisierten Zelltypen des Körpers verwandeln können
©Annette Mueck
Forschungsalltag von Anna-Lena Keller: Im ­Labor arbeitet die Biologin mit ­Stammzellen, die sich in alle spezialisierten Zelltypen des Körpers verwandeln können

Man kann sich pluripotente Stammzellen als ­unbeschriebene Blätter Papier vorstellen, die alle möglichen Formen annehmen und unterschied­lichen Zwecken dienen können: Sie können zu einem Papier­flieger gefaltet, bunt bemalt oder mit Notizen versehen werden. Hat das Blatt erst einmal seine Bestimmung gefunden, ist es nur schwer möglich, es wieder in seinen ursprünglichen unbeschriebenen Zustand zurück­zu­versetzen. Ähnlich gilt das auch für Zellen, die sich bereits spezialisiert haben. Doch genau das ist dem Team um Shinya Yamanaka gelungen. Der japanische Wissenschaftler erhielt 2012 den Nobelpreis für die bahn­brechende ­Entdeckung, dass ausgereifte Zellen in Stammzellen umgewandelt werden können.

Um reife Körperzellen in den Zustand des „un­beschriebenen Blattes“ zu versetzen, bedarf es der Zugabe sogenannter Transkriptions­faktoren. Diese Faktoren werden über Viren oder andere DNA-­Träger­systeme in die Zellen eingeschleust und starten dann ein komplexes Gen-Ableseprogramm, um den pluripotenten Stamm­zell­zustand einzuleiten. Bildlich gesprochen wird der Papier­flieger entfaltet, werden die Farben gelöscht und die Notizen ausradiert.

Nach dem Einbringen der Transkriptions­faktoren werden die Zellen unter geeigneten Umgebungs­bedingungen kultiviert. Nach etwa drei Wochen ist es so weit: Unter dem Mikroskop sind die ­Stammzellen als pflaster­stein­artige, dicht gepackte Zell­kolonien deutlich zu erkennen. Nach einer ausführlichen Qualitäts­kontrolle der Stamm­zellen können diese nun unter kontrollierten Kultur­­bedingungen zu drei­dimensionalen Mini-Organen – auch ­Organoide genannt – heran­wachsen.

Es ist noch nicht möglich, aus Stammzellen voll funktions­fähige Organe zu züchten. Doch durch Zugabe bestimmter molekularer Signale lassen sich die pluripotenten Zellen so steuern, dass sie sich zu einfachen Organ­strukturen entwickeln. Schickt man die Stammzellen beispiels­weise in Richtung „Herz“, entsteht zwar kein vollständig ausgebildetes Organ. Aber die drei­dimensionalen Strukturen fangen an, in wellen­förmigen Kontraktionen zu „schlagen“. Von Stamm­zellen abgeleitete Mini-Gehirne bilden aktive neuronale Netzwerke aus, während zum Beispiel Nieren-Organoide dabei helfen, die Toxizität bestimmter Medikamente zu erproben.

Aufgrund dieses herausragenden Potenzials sind Organoide in den letzten Jahren zu regelrechten Superstars in der Krankheits­forschung aufgestiegen, denn sie lassen sich maß­geschneidert an ein bestimmtes Krankheits­bild anpassen und ermöglichen Studien, die gut auf Patient:innen über­trag­bar sind. So finden Organoide auch in der Krebs­forschung eine bedeutsame Anwendung. Unsere Aufgabe bestand darin, die Organoide im Kampf gegen den Brustkrebs zu nutzen. Die mit etwa 30 Prozent aller Krebs­fälle häufigste Krebs­erkrankung bei Frauen ist gefährlich – vor allem, wenn die Krebs­zellen metastasieren, also bereits andere Organe befallen haben.

Krebs entsteht, wenn krankhaft veränderte Zellen den Abwehr­mechanismen unseres Körpers ent­kommen, sich über­mäßig vermehren und ihre unmittelbare Gewebs­umgebung so manipulieren, dass der Tumor zu einem komplexen Gebilde aus entarteten Zellen, Blut­gefäßen, Immunzellen und anderen biologischen Bestandteilen heranwächst. Da jeder Tumor so individuell ist wie die betroffene Person selbst, ist die Entwicklung effektiver Behandlungs­strategien eine große Heraus­forderung. Zu den bislang ungeklärten Fragen gehört, wie das unmittelbar an den Tumor angrenzende Brust­gewebe auf den Tumor einwirkt. Ein besseres Verständnis ­darüber würde uns dabei helfen, die biologische Wechsel­­wirkung von Tumoren mit ihrer Umgebung und damit das Fortschreiten von Brustkrebs besser zu verstehen.

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Was wir dazu benötigten, war ein geeignetes Test­system, das zum einen aus einem Tumor besteht, der in seiner Zusammen­setzung und Struktur einem ­„echten“ Tumor im Körper ähnlich ist, und auf der anderen Seite aus gesundem Brust­gewebe. In Kooperation mit dem Universitäts­klinikum Tübingen und mit dem Einverständnis der Patientinnen erhielten wir frisches Brust­krebs­gewebe, das wir zu mikroskopisch kleinen Tumor­fragmenten verarbeiteten. Diese Tumor­fragmente haben den Vorteil, dass sie die Eigenschaften des eigentlichen Tumors in ­kleinem Maßstab widerspiegeln, sodass wir zeit­gleich viele Experimente durch­führen können. Brustkrebs entsteht im weiblichen Organismus hauptsächlich in den Milch­drüsen oder den Milch­gängen und grenzt hierbei an Zellen an, die noch nicht entartet sind. Ist es denkbar, dass diese gesunden Zellen dem Krebs zum Opfer fallen und sein Wachstum fördern?

Um Antworten auf diese Frage zu finden, kommen die Organoide ins Spiel. Wir erstellten zunächst pluripotente Stamm­zellen und wandelten diese dann in gesunde Brust­gewebs-Organoide um. Diese enthalten – ähnlich wie echtes Brust­gewebe – Milch­drüsen und Milchgänge und können sogar Milch­proteine produzieren. Mithilfe bildbasierter Analyse­verfahren konnten wir zeigen, dass die Tumormasse und die Invasivität (also das „Einwachsen“ des Tumors in seine Umgebung) in Gegen­wart von gesundem Brust­gewebe deutlich zunahmen – ver­glichen mit jenen Bedingungen, in denen nur ein Tumor, aber kein gesundes Brust­gewebe vorhanden war. Dies galt insbesondere für fort­geschrittene Tumor­stadien. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass spezifische Biomarker, die auf Tumor­aggres­sivität, Invasivität und Metastasierung hinweisen, bei allen untersuchten Patientinnen in deutlich höheren Konzentrationen vorlagen, wenn gesundes Brust­gewebe in der Umgebung vorhanden war.

Die Quintessenz unserer Forschung ist somit: Das an den Brusttumor angrenzende Gewebe kann das Tumorwachstum unter bestimmten Bedingungen tatsächlich fördern und beschleunigen. Die Orga­noide dienten uns hier als hilfreiches Werkzeug, um Zell-Zell-Interaktionen in einem realitätsnahen Ansatz zu untersuchen und so zu einem detaillierteren Verständnis des Krankheits­verlaufs und der mit der Metastasierung verbundenen Mechanismen beizutragen. Dieses System kann uns auch helfen, Tier­versuche zu reduzieren und maß­geschneiderte therapeutische Ansätze für die Behandlung von Brustkrebs zu identifizieren.

In der Zukunft hoffen wir, dass uns von Patient:innen ­ab­geleitete Organoide und Tumor­fragmente als ­„Patienten-Avatare“ dienen: Diese basieren auf der Grundlage des individuellen „genetischen Finger­abdrucks“ des Tumors und sollen möglichst zeit- sowie kosten­effizient dabei helfen, persona­lisierte und zielgerichtete Therapie­strategien zu entwickeln. Werden diese Therapien früh­zeitig angewandt, kann der Tumor der Möglichkeit beraubt werden, sich auszubreiten und sich in anderen Organen anzusiedeln. Gelingt dies, könnte die ­Lebens­erwartung vieler Frauen weltweit erheblich ­erhöht werden.

Zum Thema

Präzisionsmedizin

Organoide – Hoffnung auf individuell zugeschnittene Therapien

Bei dem einen wirkt die Tablette gegen Migräne, beim anderen nicht. Was eine Arznei im Körper auslöst, kann individuell unterschiedlich sein. Ein viel bedeutsameres Beispiel: Wenn Frauen (selten auch Männer), die an Brust­krebs erkrankt sind, mit Herceptin behandelt werden, kann es sein, dass dieser Wirkstoff gegen den Tumor gar nichts ausrichtet, dafür aber mit ­heftigen Neben­wirkungen einher­geht. Denn helfen kann er nur, wenn der Tumor ein bestimmtes genetisches Merkmal aufweist. Dieses Merkmal lässt sich vor der Therapie iden­tifizieren.

Solche Beispiele befeuern die Hoffnungen in die „persona­lisierte Medizin“ – auch „Präzisions­medizin“ genannt. ­Gemeint ist damit die Gabe von Arzneien, die möglichst genau auf die individuellen Voraus­setzungen von Patient:innen zugeschnitten sind.

Bisher ist der Individualisierungs­grad in der Regel noch auf größere Patienten­gruppen beschränkt, bei denen bestimmte biologische Merkmale ähnlich sind. Damit die Präzisions­­medizin noch treffsicherer, noch personalisierter werden kann, müssen Erkrankungen wie Krebs vor allem auf mole­kularer Ebene besser verstanden werden.

Zum Beispiel anhand von Organoiden. Diese sind deshalb ­vielversprechend, weil sie aus dem eigenen Gewebe von Patient:innen hervor­gingen – und somit genetisch identisch sind. An ihnen lassen sich verschiedene Medikamente aus­probieren und so vorab die wirksamsten für die eigentliche Therapie auswählen.

Hoffnungen setzen auch Forscher:innen aus der regenera­tiven Medizin in Organoide. Denn werden sie aus gesunden menschlichen Zellen generiert, können sie ­transplantier­bares Gewebe, eines fernen Tages vielleicht sogar ganze Organe liefern. — J. Schüring

Sie verwenden einen veralteten Browser oder haben Javascript in Ihrem Browser deaktiviert.
Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser oder aktivieren Sie Javascript.
x