Christian Schiffer an seinem Arbeitsplatz
©Ute Friederike Schernau

Biologie Auf der falschen Fährte

Kommunikation ist der Schlüssel zum Erfolg – auch bei der Fortpflanzung: Nur wenn Spermien die chemischen Signale der Eizelle richtig interpretieren, schaffen sie die beschwerliche Reise durch den Genitaltrakt der Frau. Doch Chemikalien, denen wir im Alltag ausgesetzt sind, so Biologe Christian Schiffer, können die Sensoren der Spermien gehörig stören.

von Christian Schiffer

Viele tausend Paare suchen jährlich ärztlichen Rat, weil ihr Kinderwunsch unerfüllt bleibt. Auch wenn sich mittlerweile viele Fruchtbarkeitsstörungen mithilfe der Reproduktionsmedizin überwinden lassen, bleiben die eigentlichen Ursachen oft rätselhaft. Forscher vermuten, dass Störungen im hormonellen Botenstoffsystem von Zellen dabei eine Rolle spielen. Dabei geht es um die chemische Kommunikation zwischen der reifen Eizelle im hinteren Teil des Eileiters und den orientierungslosen Spermien, die  darauf warten, dass die Eizelle ihnen den Weg weist.

Dazu schütten sogenannte Kumuluszellen, die die Eizelle wolkenartig einhüllen, einen Hormon-Cocktail in die Eileiterflüssigkeit aus – ein Hauptbestandteil ist das Sexualhormon Progesteron. Spermien besitzen in der Membran ihres Schwanzes einen speziellen Sensor dafür. Bei diesem „CatSper“ (Cation Channel of Sperm) genannten Protein handelt es sich um einen sogenannten Ionenkanal, der als molekulare Schleuse den Fluss von Kalziumionen von außen in das Spermium hinein kontrolliert. Sobald Progesteron den CatSper-Kanal aktiviert, lässt dieser innerhalb von Millisekunden Kalziumionen ins Spermium einströmen. Die Folge: Das Schwimmverhalten der Spermien verändert sich derart, dass diese der Progesteronfährte bis zur Eizelle folgen.

Schlagmuster des Schwanzes ein- und desselben Spermiums
©Christian Schiffer
Schlagmuster des Schwanzes ein- und desselben Spermiums, entstanden durch Überlagerungen der Aufnahmen einer Hochgeschwindigkeitskamera (250 Bilder pro Sekunde). Links ist das typisch symmetrische, normale Schlagmuster zu sehen. Nach der Zugabe des UV-Blockers 4-MBC wird die Bewegung asymmetrisch (rechts).

Neben dieser Wirkung als „Lockstoff“ hat Progesteron noch weitere Einflüsse auf die Spermien. In unmittelbarer Nähe zur Eizelle, dort, wo die Konzentration des Hormons am höchsten ist, fordert es – gemeinsam mit anderen Botenstoffen – die Spermien zu einem letzten Kraftakt heraus: Sie beginnen nun besonders kraftvoll mit dem Schwanz zu schlagen und setzen zu dem als „hyperaktiv“ bezeichneten Schwimmstil an. Er ist notwendig, um sich in der zähen Schutzhülle des Eis zu bewegen.

Sobald sie das Ei erreicht haben, wird zudem die Freisetzung von Verdauungsenzymen aus dem Spermienkopf ausgelöst. Beide Vorgänge sind die Voraussetzung dafür, dass das Spermium die zähe Schutzhülle der Eizelle durchdringen und diese dann befruchten kann. Jener CatSper-Kanal ist für diese hormonelle Kommunikation zwischen Eizelle und Spermien absolut entscheidend – fehlt er oder funktioniert er nicht, ist der Mann zeugungsunfähig.

Spermien werden mit einem Indikatorfarbstoff beladen
©Ute Friederike Schernau
Die Spermien werden mit einem Indikatorfarbstoff, der Änderungen des Kaliumgehalts am Spermium optisch sichtbar macht.

Gerade hormonelle Kommunikationswege sind allerdings anfällig für diverse Störungen. Seit über 50 Jahren weiß man bereits, dass sie von bestimmten Chemikalien beeinflusst werden können. Sogenannte endokrine Disruptoren (Endocrine Disrupting Chemicals: EDCs) können die Wirkung natürlicher Hormone auf Zellen imitieren. Das Pestizid DDT ist ein prominenter Vertreter dieser Störer des Hormonsystems: Die Wunderwaffe gegen Insekten führte nach dem Zweiten Weltkrieg beinahe zur Ausrottung des Weißkopfseeadlers in den USA. Das Insektizid war in die Nahrungskette gelangt und hatte unter anderem dazu geführt, dass die Schalen der Adlereier im Horst zerbrachen. Ein Beispiel für die tragischen Folgen für den Menschen ist das werdenden Müttern verabreichte Medikament Diethylstilbestrol, kurz DES, welches bis in die 1970er-Jahre hinein durch seine unentdeckte hormonähnliche Wirkung tausendfach zu gravierenden Schwangerschaftskomplikationen führte.

EDCs sind heute in der Umwelt allgegenwärtig – etwa in Gestalt von Pestizidrückständen in Lebensmitteln. Chemikalien, die als EDCs wirken können, werden aber manchen Produkten wegen ihrer besonderen Eigenschaften auch gezielt zugesetzt – etwa als Konservierungsstoffe in Lebensmitteln, Weichmacher in Kunststoffen oder als Zusätze in Futtermitteln für die Tiermast. Die von diesen Substanzen verursachten hormonellen Ungleichgewichte könnten auch die Fruchtbarkeit beeinträchtigen – jedenfalls lassen einige medizinische Studien den Verdacht aufkommen, dass eine erhöhte Belastung durch EDCs zum Beispiel mit genitalen Fehlbildungen oder einer reduzierten Spermienproduktion in Verbindung stehen könnte. Daher habe ich mich dieser weitgehend unerforschten Frage gestellt: Wie reagieren menschliche Spermien auf EDCs?

Dazu habe ich zunächst die hundert am weitesten verbreiteten EDCs daraufhin durchmustert, ob sie in den Kalziumhaushalt menschlicher Spermien eingreifen. Die Spermien wurden mit einem Indikatorfarbstoff beladen, der Änderungen des Kaluziumgehalts im Spermium optisch messbar macht. Viele Chemikalien, darunter auch der besonders bedenkliche Kunststoffweichmacher Bisphenol A, zeigten keine Wirkung. Aber: Rund ein Drittel jener 100 Chemikalien löste tatsächlich einen Kalziumstrom in die Spermien aus.

Diese Störer des Hormonsystems sind heute in der Umwelt allgegenwärtig.

Christian Schiffer

Neben UV-Blockern wie Enzacamen (4-MBC), das in Sonnenschutzmitteln und Kosmetika enthalten ist, gehören der Kunststoffweichmacher Dibutylphthalat, das Mastmittel α-Zearalenol oder das antimikrobielle Triclosan in mancher Zahnpasta zu den „aktiven“ EDCs – einer überaus heterogenen Gruppe von Chemikalien im Hinblick auf ihre chemischen Eigenschaften und die Pfade, über die sie von uns aufgenommen werden.

Nun galt es zu überprüfen, ob der EDC-vermittelte Kalziumeinstrom tatsächlich über den Ionenkanal CatSper erfolgt oder ob womöglich ein anderer Mechanismus dahintersteckt. Dazu haben wir, ganz ähnlich wie bei der Erstellung eines Elektrokardiogramms, die winzigen, charakteristischen Ströme gemessen, die durch CatSper fließen. Und tatsächlich zeigte sich dabei: Die von uns  analysierten EDCs öffnen den CatSper-Kanal genauso wie das natürliche Hormon Progesteron.

Noch besorgniserregender ist aber, dass EDCs die Spermien zusätzlich „blind“ für das natürliche Progesteron machen. Der UV-Blocker 4-MBC beispielsweise reduziert die Progesteron-Empfindlichkeit der Spermien um etwa 50 Prozent.

Christian Schiffer an der Kamera
©Ute Friederike Schernau
Das Schlagmuster des Spermienschwanzes lässt sich mit einer Kamera aufzeichnen und analysieren. Unter Ruhebedingungen ist es gleichmäsig und symmetrisch.

Damit war klar: Mit der Hypothese, auf der das Projekt gegründet worden war, hatten wir ins Schwarze getroffen. Aber verblüfft – und auch ein wenig bedrückt – waren wir trotzdem, als wir uns dieser klaren und eindeutigen Datenbasis gegenübersahen.

Um die Wirkung der EDCs noch genauer zu verstehen, habe ich deren Einfluss auf das Schwimmverhalten der Spermien untersucht. Das Schlagmuster des Spermienschwanzes lässt sich mit einer Kamera aufzeichnen und analysieren. Unter Ruhebedingungen ist es gleichmäßig und symmetrisch. Gibt man aber den UV-Blocker 4-MBC zu, nimmt die Schlagfrequenz deutlich ab und das Schlagmuster wird asymmetrisch.

Dieses Schwimmen ähnelt jener „hyperaktiven“ Fortbewegung, wie sie nach der Stimulation durch das natürliche Hormon Progesteron beobachtet wird. Auch die Freisetzung des Enzym-Cocktails, der dem Spermium hilft, zur Eizelle vorzudringen, wird von den EDCs ausgelöst.Damit liegt die Frage auf der Hand, welche Folgen dies nun für die Fortpflanzung haben könnte. Im Gegensatz zu dem natürlichen Progesteron sind die EDCs nicht nur in der Nähe der Eizelle zu finden, sondern kommen überall vor. Und das könnte fatale Konsequenzen haben. Denn der Enzymvorrat eines jeden Spermiums kann nur einmal freigesetzt werden.

Als wir uns dieser eindeutigen Datenbasis gegenübersahen, waren wir verblüfft – und auch ein wenig bedrückt.

Christian Schiffer

Wenn also die Spermien durch die EDCs schon verfrüht zur Ausschüttung angeregt werden, bleiben sie womöglich in der Eihülle stecken. Wenn sie denn überhaupt ankommen: Lösen EDCs die hyperaktive und Kräfte zehrende Bewegung nämlich bereits weit entfernt von der Eizelle aus, bleiben die Spermien womöglich auf der Strecke. Hyperaktive Spermien können sich zwar innerhalb der zähen Schutzhüllen des Eis fortbewegen, beim Langstreckenschwimmen durch den Eileiter aber versagen sie.

„Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift sei“ – der Grundsatz des Paracelsus gilt natürlich auch in diesem Fall. Tatsächlich nehmen wir täglich nur Spuren dieser Substanzen auf, sodass in der Fachwelt heftig debattiert wird, ob solche Mengen überhaupt eine Gefahr für unser Hormonsystem darstellen und ob die Erkenntnisse aus Laborversuchen auf das reale Leben übertragbar sind.

Ich habe daher die Dosisbereiche bestimmt, in denen die EDCs auf Spermien wirken – mit ernüchterndem Resultat: Manche EDCs haben eine Wirkung auf Spermien in Dosisbereichen, wie man sie tatsächlich auch im menschlichen Körper nachgewiesen hat. Unter Umständen könnten also bereits einzelne EDCs in den sehr geringen Konzentrationen, in denen sie im Körper vorkommen können, Spermien von ihrem Weg zur Eizelle abbringen.

Im Alltag sind wir allerdings vielen verschiedenen EDCs gleichzeitig ausgesetzt. Ich konnte zeigen, dass sich in „EDC-Cocktails“ die Wirkungen der einzelnen Substanzen addieren und zu einer Aktivierung des Ionenkanals der Spermien führen. Dieses Zusammenspiel verschiedener EDCs ist von großer Bedeutung: Selbst wenn es für einzelne Stoffe „sichere Grenzwerte“ gäbe, könnten sie in der Summe mit anderen EDCs trotzdem fatale Folgen haben. Für die Erarbeitung zukünftiger Richtlinien ist dieses Ergebnis sehr wichtig: Anstatt Grenzwerte für einzelne Chemikalien zu bestimmen, wie es heute gängige Praxis ist, sollten neue Normen auch die Wirkungen mehrerer Substanzen berücksichtigen.

Hintergrund

Hindernislauf über 20 Zentimeter

Das Wunder des Lebens beginnt mit einem Kampf ums Überleben. Von den rund 300 Millionen Spermien, die sich auf den gut 20 Zentimeter langen Weg zur reifen Eizelle machen, schaffen es höchstens ein paar hundert bis in den Eileiter. Der größte Teil der Samenzellen stirbt noch in der Scheide ab.

Die, die es von dort bis in die Gebärmutter schaffen, müssen die nächste Hürde nehmen. Nur in der Zeit um den Eisprung geht es hier überhaupt weiter – dann löst sich ein Schleimpfropfen, der den Muttermund sonst verschließt, und gibt den Weg frei. Aber auch hier ist für viele Spermien Schluss.

Während der kurzen Zeit der Empfängnisbereitschaft bietet der ansonsten undurchdringliche Zervixschleim den Überlebenden nun alles, was sie brauchen. Er nährt sie mit speziellen Zuckerstoffen, hält sie beweglich und weist ihnen mittels verschiedener Signale den Weg zum Ei. Die schnellsten Spermien schaffen die Strecke in einer Dreiviertelstunde, die letzten trudeln nach etwa zwölf Stunden ein.

Doch auch jetzt, wenige Millimeter vor dem Ei, ist noch nichts entschieden. Die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende ein Spermium das Rennen macht, die Hülle der reifen Eizelle durchdringt und mit ihrem Kern verschmilzt, liegt pro Zyklus je nach Alter, Lebensumständen und Veranlagung bestenfalls bei 25 Prozent.

Wenn es aber auch nach vielen Versuchen nicht klappen will, ist Mann oder Frau womöglich unfruchtbar – in etwa der Hälfte dieser Fälle liegt die Ursache bei ihm. Mittlerweile deutet vieles darauf hin, dass Umweltfaktoren einen maßgeblichen Einfluss auf die in den Industrienationen steigende Zahl zeugungsunfähiger Männer haben.

So fand ein Team um Matthieu Rolland vom Institut de Veille Sanitaire in Paris-Saint Maurice 2013 heraus, dass die Gesamtzahl der Spermien und die Zahl der normal (also nicht miss-)gebildeten Spermien bei über 26 000 französischen Männern in dem Zeitraum von 1989 bis 2005 um jeweils ein Drittel zurückgingen. 2017 vermeldete ein Team um Hagai Levine von der Hebrew University in Jerusalem, dass die Konzentration von Spermien pro Milliliter Sperma bei Männern aus Nordamerika, Europa, Australien und Neuseeland zwischen 1973 und 2011 um mehr als 50 Prozent sank.

Wenngleich die Spermienzahl allein nichts über die Fertilität aussagt, vermuten viele Wissenschaftler, dass für diesen Rückgang auch der zunehmende Einfluss jener endokrinen Disruptoren verantwortlich ist, die in Lebensmitteln, Plastik, Textilien, Kosmetika und vielen anderen Dingen vorkommen.

von Joachim Schüring

Querschnitt einer Vagina
©Mario Mensch
Von den über 300 Millionen Spermien schaffen es lediglich etwa zehn Prozent in die Gebärmutter. Ein paar hundert erreichen schließlich den Eileiter. Am Ende befruchtet aber nur ein einziges von ihnen die Eizelle.
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